KUSTERDINGEN. »Meine Oma hat sich immer gewünscht, dass ich eine Tracht habe«, sagt Rahel Sautter. Ihre Mutter Friederike Obergfell hat sie sofort mitgenommen, als sie von der Nähgruppe des Albvereins erfahren hat. Diese erhält eine Tradition am Leben: Trachten mit all ihren vielen kleinen Details werden hier überwiegend in Handarbeit genäht. Die Trachten werden nur wenige Male im Jahr zu Umzügen oder an Festtagen getragen. Der Markgröninger Schäferlauf und das Oberndorfer Musikfest stehen etwa fest im Programm. Auch die ganz kleinen Vereinsmitglieder dürfen ins historische Gewand. Nur wenige Wochen war Sautters Tochter alt, als sie mit auf einen Umzug durfte - in einer winzig kleinen Tracht, die ihre Oma für sie genäht hatte.
Sautters Nähleidenschaft ist noch frisch. Aber ihre Mutter unterstützt sie immer gerne. Wenn beide nicht mehr weiter wissen, ist Rosemarie Ebinger zu Stelle. Sie hat sich intensiv mit dem Nähen von Trachten beschäftigt. »Meine Mutter war Damenschneiderin. Mir wurde das praktisch in die Wiege gelegt«, sagt sie.
Genäht wird alleine
Jeden zweiten Dienstag trifft sich die Gruppe im Vereinsheim. Hier wird sich vor allem ausgetauscht. Zu Hause wird alleine genäht, das meiste von Hand. Techniken wie Klöppeln und Sticken gehören auch dazu. Wer sich eine eigene Tracht nähen möchte, muss viel Geduld mitbringen. Die Nähgruppenleiterin Katharina Dürr näht seit zwei Jahren an ihrer Tracht. »Ich hätte nicht gedacht, dass das so viel Aufwand ist. Früher haben die Frauen abends in den Wintermonaten genäht. Im Sommer mussten sie ja auf dem Feld arbeiten.«
Die älteste Tracht im Fundus des Albvereins stammt aus dem Jahr 1712. Das erkennt man an der eingestickten Jahreszahl. So manch ein Kusterdinger oder Wankheimer hat Erbstücke dieser Art an den Schwäbischen Albverein vermacht. Da die Kleider auf den Leib geschneidert wurden, passen sie natürlich nicht jedem. Insbesondere bei den Kindergrößen - natürlich sind die Kleinen bei Umzügen vorne mit dabei - kann das durchaus lustig aussehen. »Vor ein paar Jahren hat meine Nichte fast eine Schleppe getragen, jetzt ist der Rock kniehoch«, sagt Dürr.
Sigrid Kreutzer hat ihre erste Tracht mit 17 Jahren genäht. Sie macht sich dran, alte Trachten »aufzumöbeln«, denn manche Stoffe sind stark verblichen. Sorgfältig begutachtet sie ein Männerhemd, auf dem die eingestickte 1880 zeigt, wie viele Jahrzehnte es auf dem Buckel hat. »Die Trachten muss man meist größer und weiter machen, da die Menschen sie damals zur Konfirmation getragen haben. Die passen vielen einfach nicht mehr«, erklärt sie.
Die Trachten gehören zu den sogenannten »erfundenen Traditionen, die man mittlerweile für selbstverständlich nimmt«, weiß Lioba Keller-Drescher, Professorin an der Universität Münster. »Diese dienen der regionalen Identität und fungieren als Kitt für die Gesellschaft.« Sie hat am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen über das Thema Trachten aus der Region promoviert. Die Trachten haben ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert. Herzog Carl Eugen von Württemberg kämpfte damals mit einer Regierungskrise. Er ließ ein »ideales Landvolk« entwerfen. Für einen Hofkalender wurden 1789 Trachten gezeichnet. Auf einem Blatt war ein Mädchen aus dem Steinlachtal porträtiert. »Sie ist so etwas wie die Urmutter der lokalen Tracht«, sagt die Wissenschaftlerin. Auf Festzügen wurden diese Trachten der Bevölkerung vorgeführt. Über die Jahre wurden die Trachten zwar immer wieder modernisiert, behielten jedoch ihren »Sonderstil«. »In vielen Orten sind sich die Trachten sehr ähnlich. Es gibt nur kleine Unterschiede.«
Kusterdinger Trachten haben drei Streifen
Die Kusterdinger Tracht ähnelt der der Betzinger. Aber auch auf den Härten gibt es bei den Trachten kleine Unterschiede: zum Beispiel bei den goldenen Streifen am Rücken, berichtet die Nähgruppe. Für die Wankheimer sind es vier an der Zahl, die Kusterdinger haben drei.
Die Farben der Kusterdinger Tracht sind grundlegendend einheitlich. Der Samtrock ist dunkelblau. Eine Goldborte schmückt den Saum. Darüber kommt die Schürze. Verziert sind die Goller - Überwürfe über dem Mieder - mit roten und grünen Bändern - bei den ledigen Frauen, mit violetten bei den verheirateten. An der Farbgestaltung erkennt man also auf einen Blick, wer verheiratet und wer noch zu haben ist. Die Ledigen tragen eine weiße Schürze und ein Kränzchen auf dem Kopf, das mit Perlen und Kunstblumen verschönert ist. Die Blumen sollen Fruchtbarkeit symbolisieren. Insgesamt ist die Tracht der Ledigen deutlich bunter und auffallender, als die der verheirateten Frauen. »Sie sind schließlich bereits unter der Haube«, scherzt Dürr. Diese gehört natürlich zur Tracht, die farblich in Violett gehalten ist. Ketten aus Granatperlen schmücken aber beide Trachtentypen.
Die Herren tragen weiße Hosen und Hemden und tomatenrote Westen. Um den Hals haben sie ein Tuch gebunden. Auf dem Kopf tragen sie eine Lederkappe. Auch kleine Details können eine Bedeutung haben. An beispielsweise der Menge der Kugelknöpfen an der Männerweste sieht man dem Herrn seinen Wohlstand an. Bei den Damen erkennt man das Vermögen am Satin-Bändchen am Hals. An diesem hängt eine vergoldete Silbermünze; das Geldle. Auf dieser war das Silbermünze – Bild vom Landesfürsten Wilhelm II. - eingeprägt. An der Münze hängt ein Schmuckstück. Wer ein Pferdle trägt, ist wohlhabend, auch das Schäfchen zeigt einen gewissen Wohlstand, während ein Gerstenkörnle bei den gewöhnlichen Bürgern zu sehen ist. (GEA)