WANKHEIM/ TÜBINGEN. Auf dem jüdischen Friedhof in Wankheim liegen mehrere Generationen von Bürgern begraben. Darunter auch drei Generationen von Vorfahren der Tübingerin Ilse Bloch, geborene Löwenstein. Sie jedoch nicht. Sie ist im Krematorium des Vernichtungslagers Auschwitz verbrannt worden.
Kreisarchivar Wolfgang Sannwald Film folgt den Grabsteinen der Familie von Ilse Bloch in einem Film mit dem Titel »Wer hat Heimat hier? Fünf Generationen und der Jüdische Friedhof Wankheim«. Er wurde im Rahmen der virtuellen Stadt-Führungs-Reihe »Kennen Sie Tübingen?« im Kino Museum in Tübingen vorgestellt. »Mit den Videoführungen wollen wir neues Publikum erreichen«, sagte Dagmar Waizenegger, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur. Das Kino war bei der Filmpremiere zumindest sehr gut besucht.
200 Jahre alte Grabsteine
Der Begräbnisort diente von 1774 bis 1882 der jüdischen Gemeinde Wankheim und bis 1941 der jüdischen Gemeinde Tübingen. Auf dem denkmalgeschützten Friedhof befinden sich Grabsteine aus 200 Jahren. Die älteren haben teilweise noch hebräische Inschriften: Wer der Sprache mächtig ist, erfährt hier nicht nur, wer hier bestattet worden ist, sondern auch Wissenswertes zur Person. So befindet sich auf dem Grabstein von Blochs Urgroßvater Veit Liebmann die Skizze eines Kruges. »Das ist ein Hinweis darauf, dass er das Amt des Leviten in der Wankheimer jüdischen Gemeinde inne hatte. Er war dafür zuständig, die Hände des Priesters zu waschen«, erklärt Sannwald. Der Segenswunsch auf dem Grabstein schließt mit: »Ihre Seele sei eingebunden in das Rinnsal des Lebens.«
Blochs Ur-Ur-Großvater Mosche Liebmann ist einer der ersten, der Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Friedhof begraben wurde. Geboren ist er 1778. Er ist damit einer der Ur-Wankheimer. »Die Gräber sollen hier bis in die Ewigkeit liegen«, sagte Sannwald. »Dass die Namen lesbar bleiben ist für die Nachkommen sehr wichtig. Friedhöfe sind wichtig für die Erinnerungskultur.« Nicht nur der Zahn der Zeit hat an den Grabsteinen genagt. Mehrfach kam es in der Vergangenheit auf dem Jüdischen Friedhof zu Schändungen. Derzeit finden dort Sanierungen statt, der GEA berichtete.
14 hiesige Opfer des Nazi-Regimes haben kein Grab. Dem Shoah-Überlebenden Viktor Marx aus Tübingen war es wichtig, ihnen einen Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof Wankheim zu setzen. Finanziert hat er das unter anderem durch Lebensmittel. Ein Zeitzeugnis von Bloch, das Sannwald zu Beginn des Films zeigt, ist eine Postkarte aus dem Jahr 1943 aus dem Ghetto Theresienstadt an eine Freundin. In dieser dankt sie ihr für ein Paket mit Fett zum Kochen. »Pakete kamen damals nicht an«, gibt Sannwald zu bedenken. »Das ist ein Hilferuf.«
Hinter unscheinbaren Dokumenten steckt Tragik
Die Kamera begleitet Sannwald auch bei seiner Archiv-Arbeit. Mit weißen Handschuhen fasst er behutsam die vergilbten Schriftstücke an, die im Tübinger Stadtarchiv lagern. Er zieht das Register hervor, in dem die Geburt von Ilse Blochs Mutter verzeichnet ist. Ein anderes Dokument wirkt unscheinbar. Es zeigt jedoch die menschenverachtende Bürokratie des Systems: die Verwaltungsliste des Transports der Jüdinnen und Juden aus Tübingen ins Ghetto Theresienstadt. Unter den Opfern befanden sich Ilse Bloch und ihre Mutter.
Sannwald stellte sich im Anschluss den Fragen der Zuschauer. Wie kommt er beispielsweise auf seine Quellen? Auch auf digitalen Wegen: Der Stadtarchivar greift in seiner Forschung auch auf Online-Archive zurück. Hier fand er ein schlicht wirkendes Dokument, datiert auf den 23. Oktober 1944, mit grauenvoller Wirkung: den Transportschein von Ilse nach Auschwitz – ihr letztes Lebenszeichen. »Es ist wichtig, den Weg der Quellen zu verfolgen«, sagte er. »Es ist wichtig, dass die Information glaubhaft ist.«
Der Film ist unter https://www.tuebingen.de/kennen-sie-tuebingen#/37127 sowie auf dem YouTube-Kanal der Stadt Tübingen zu sehen. Julian Meinhardt und Florian Mittelhammer, Fachbereich Kunst und Kultur, waren für Kamera und Schnitt zuständig. Regelmäßig werden Führungen über den Wankheimer Friedhof angeboten. (GEA)