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Aktuell Selbsthilfegruppe

Corona-Impfschäden: Wie sich Betroffene in Tübingen organisieren

Sie fühlen sich oft nicht ernst genommen und wünschen sich eine feste Anlaufstelle: Eine Selbsthilfegruppe kämpft in Tübingen für Menschen, die seit der Covid-Impfung unter rätselhaften Symptomen leiden. Post-Vac nennen Betroffene Auswirkungen wie Herzrhythmusstörungen, Gelenkschmerzen, Übelkeit und Belastungsintoleranz. Sie fordern mehr Studien auf dem Gebiet und hoffen auf Synergien mit der Long-Covid-Forschung.

Über mögliche Auswirkungen von Impfungen gegen Covid-19 gibt es noch viel zu wenig Daten, sagen Betroffene einer Tübinger Selbst
FOTO: KUMM/DPA Foto: dpa
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Foto: dpa

TÜBINGEN. Marianne K. hat sofort gespürt, dass etwas nicht stimmt. »Nach der ersten Impfung im Herbst 2021 saß ich im Wartebereich der Halle, als meine Arme und Beine anfingen zu kribbeln und die ganze linke Seite meines Körpers gezappelt hat«, erinnert sich die 41-Jährige. Sie heißt in Wirklichkeit anders, möchte aber anonym bleiben. Der Notarzt meinte, sie hätte eine Panikattacke und war zuversichtlich, dass die Beschwerden in spätestens 24 Stunden verschwunden sein werden.

Doch heute, eineinhalb Jahre später, sind die Symptome immer noch da. »Ich warte jeden Tag, dass es aufhört«, sagt Marianne K. bitter. Immer wieder zuckt ihr Arm, manchmal entzündet sich ihre Leber, ihr Blutzucker ist zu hoch und Autoimmunwerte in ihrem Blut liegen ebenfalls über dem Normbereich. Sie habe seit der Biontech-Impfung Bewusstseinstrübungen und kann sich nur noch kurz konzentrieren. »Ich kann höchstens zwei Seiten lesen«, sagt sie.

Marianne K. leidet unter Post-Vac. So nennen Betroffene Symptome nach einer Covid-Impfung, die nicht wieder verschwinden wie die Schmerzen im Arm. Marianne K. hat mit anderen Betroffenen im Februar 2022 in Tübingen Deutschlands erste Selbsthilfegruppe für Betroffene gegründet. Die mittlerweile 51 Mitglieder tauschen sich aus und helfen einander so gut es geht.

Doch sie erheben immer lauter auch Forderungen an die Politik. Ein erster offener Brief, den die Gruppe im Februar dieses Jahres an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die Landesgesundheitsminister und lokale Abgeordnete verschickte, blieb unbeantwortet. Aber die Tübinger lassen nicht locker: »Wir als Post-Vac-Selbsthilfegruppe fordern das Land Baden-Württemberg auf, seiner Versorgungspflicht nachzukommen und Gelder für Forschung und Behandlung bereitzustellen«, sagt Marianne K.

Das Grundproblem: Die Krankheit ist nicht definiert, und es gibt keine Therapie. Das fehlende Wissen über unerwünschte Folgen der Covid-Impfung macht es für Betroffene schwierig, medizinische Hilfe zu finden. Die Erforschung möglicher Impfkomplikationen steckt noch ganz in den Anfängen. Es gibt an der Universitätsklinik Marburg eine Post-Vac-Spezialsprechstunde, ebenso eine entsprechende Ambulanz in Ulm. Auch an der Charité in Berlin wird zu Long-Covid und Post-Vac geforscht.

»Das ist psychosomatisch«

Anderswo sind Patienten auf ihre Hausärzte und im Ernstfall auf die Notaufnahmen der Kliniken angewiesen. Sie machen dort sehr unterschiedliche Erfahrungen – nicht selten schlechte. »Das ist psychosomatisch«, bekam Marianne K. immer wieder zu hören. Sie empfand es als Schlag ins Gesicht: »Ich fühle mich so wenig ernst genommen.« Arbeiten kann die Pädagogin schon lange nicht mehr, zwei Eingliederungsversuche sind gescheitert. Wie es weitergeht nach Auslaufen des Krankengelds? »Keine Ahnung«, sagt sie. »Keiner aus unserer Gruppe ist wieder genesen.« Zehn von ihnen haben Entschädigung wegen eines Impfschadens beantragt. Anerkannt wurde noch niemand, ein Fall sei vom Versorgungsamt Rottweil abgelehnt worden.

Ein Aufkleber weist im Impfheft auf eine Impfung mit dem Impfstoff Moderna hin.  FOTO: DPA
Ein Aufkleber weist im Impfheft auf eine Impfung mit dem Impfstoff Moderna hin. FOTO: DPA
Ein Aufkleber weist im Impfheft auf eine Impfung mit dem Impfstoff Moderna hin. FOTO: DPA

Schlechte Erfahrungen hat auch Petra M. Die erste Impfung mit Astrazeneca hat sie gut vertragen. Auf die zweite, dieses Mal mit dem Wirkstoff von Biontech, reagierte ihr Körper mit Herzrhythmusstörungen, Gelenkschmerzen, Übelkeit, Durchfall. »Ich hatte immer Angst, ohnmächtig zu werden«, erzählt sie. Wochenlang hat sie sich nicht mehr getraut, Auto zu fahren. Dann wurde es langsam besser. Und sie hat sich ein drittes Mal, erneut mit Biontech, impfen lassen. Die Beschwerden kehrten zurück. Behandeln können die Ärzte bis heute nur ihre Symptome, die Ursachen bleiben im Dunkeln.

Petra M. fühlt sich bei ihren Ärzten gut aufgehoben, einer habe ihr auch gesagt, dass sie nicht die einzige sei. Aber auch sie hat andere Erfahrungen gemacht, fühlte sich in einer Notaufnahme unverstanden und rasch abgefertigt. Seit sie ihre Stelle auf 50 Prozent reduziert hat, geht es der 65-Jährigen besser. »Belastungsintoleranz« nennt sie das, was außer ihr auch andere erleben. Sobald sie sich ein kleines bisschen zuviel zumuten, kehren die Symptome mit voller Wucht zurück.

Per Krankenwagen in die Charité

Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe machen sich so gut es geht zu Experten in eigener Sache. Fordern Ärzte auf, bestimmte Entzündungsparameter im Blut zusätzlich zu erfassen, suchen spezialisierte Behandlungszentren auf. Manche nehmen antiallergische Medikamente. Ein Betroffener lässt sich demnächst per Krankenwagen in die Charité nach Berlin fahren. »Dem geht es so schlecht, und er findet beim Arzt keine Hilfe«, sagt Marianne K. Und kämpft mit den Tränen. Fürs Erste wäre ihnen allen gedient, wenn sie eine feste Anlaufadresse hätten, zum Beispiel bei der Tübinger Uniklinik.

Forderung nach genaueren Daten

Genauere Daten zu möglichen Impfnebenwirkungen hat auch die Tübinger Notärztin Lisa Federle eingefordert. Gemeinsam mit OB Boris Palmer schrieb sie vor mehr als einem Jahr an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und forderte, die beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gemeldeten Zahlen zu Nebenwirkungen mit den Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen abzugleichen. Bisher ohne Ergebnis, wie Federle beklagt.

Ihr Eindruck ist jedoch, dass etwas in Bewegung kommt, nachdem der Gesundheitsminister zumindest eingeräumt hat, dass es Schäden durch die Impfung geben könne. Erst jüngst haben die Landesgesundheitsminister den Bund aufgefordert, die Forschung zu intensivieren. »Die Gesundheitsministerkonferenz bittet den Bund, die Erforschung des Post-Vac-Syndroms zu intensivieren und zu fördern«, heißt es dort. Außerdem bitten sie beim PEI um den aktuellen Sachstand.

Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) lässt auf GEA-Anfrage mitteilen: »Gleichzeitig gibt es natürlich in Baden-Württemberg ein hochprofessionelles und ausdifferenziertes Regelsystem mit niedergelassenen (Fach-)Ärzten und Kliniken, das schon jetzt bei Beschwerden hilft. Erste Anlaufstelle zur Behandlung ist immer die Hausarztpraxis, die bei Bedarf die Koordination der Behandlung übernimmt und diagnostische sowie erforderliche therapeutische Maßnahmen einleiten kann.«

Doch damit beißt sich die Katze in den Schwanz. Ohne gesicherte Forschungserkenntnisse sind letztlich auch die Hausärzte allein gelassen mit den Patienten und ihren Beschwerden. Die SPD in Baden-Württemberg forderte jüngst, mehr Spezialambulanzen einzurichten. Bayern hat kurz vor Ostern eine Hotline für Menschen eingerichtet, die sich nach der Covid-Impfung krank fühlen.

Keine Impfgegner

»Man müsste einfach untersuchen, warum es manche trifft und andere nicht«, sagt Petra K. Hauptsächlich junge gesunde Frauen hätten mit starken Symptomen zu kämpfen, haben die beiden beobachtet. Vielleicht weil bei ihnen das Immunsystem noch stärker reagiert, als bei Älteren, mutmaßt Petra K. Ihr ist es wichtig, Risikogruppen auszuweisen, damit es bei künftigen Impfungen weniger schlimme Folgen gibt. Sie hofft auf Synergien mit der Long-Covid-Forschung, die bereits länger angelaufen ist.

CORONA-IMPFUNGEN

Mehr als 300 000 mal Verdacht auf Nebenwirkungen gemeldet

Das Robert Koch-Institut und die Ständige Impfkommission unterscheiden zwischen Impfreaktionen, Impfkomplikationen und Impfschäden. Impfreaktionen sind zum Beispiel ein schmerzender Arm oder Kopfschmerzen. Impfkomplikationen sind weitaus dramatischer: Darunter fallen beispielsweise Herzmuskelentzündungen oder Sinusvenenthrombosen, wie sie in ganz seltenen Fällen beim Impfstoff von Astrazeneca beobachtet wurden. Impfschäden wiederum müssen laut Paul-Ehrlich-Institut von einem Versorgungsamt oder einen Gutachter anerkannt werden. Ende April beginnt in Frankfurt der erste Zivilprozess: Eine Frau klagt, weil sie einen Herzschaden auf die Impfung mit dem Biontech-Wirkstoff zurückführt. In Düsseldorf beginnt im Mai eine Serie mit 135 Verfahren. Gesammelt werden die Daten über mögliche Impfkomplikationen beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Demnach gab es zwischen Ende Dezember 2020 und Ende Juni 2022 insgesamt 182 717 880 Impfungen gegen Covid. In diesem Zeitraum wurden dem PEI 323 684 Verdachtsfälle auf Nebenwirkungen gemeldet. Die Melderate von Verdachtsfällen liegt demnach bei 1,8 Meldungen pro 1 000 Impfdosen. Bei schwerwiegenden Impfkomplikationen liegt die Rate bei 0,3 Meldungen pro 1 000 Impfdosen. (sel)

Die beiden sind keine Impfgegner. »Ich hab’ mich gegen alles impfen lassen: Masern, Zecken, Tollwut«, sagt Marianne K. Ihre Leidensgenossin Petra M. will sich auch weiterhin impfen lassen. Aber nicht mit mRNA-Impfstoffen. »Da bin ich doch stark verunsichert.« (GEA)