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Buchvorstellung in Tübingen: Lisa Federle und Boris Palmer kritisieren Bürokratie

Die beiden Tübinger plädieren für pragmatisches Handeln. Wie Hilfe funktioniert.

»Wir machen das jetzt«, haben Lisa Federle und Boris Palmer beschlossen. Die Benefizveranstaltung für den Verein »Bewegt Euch« h
»Wir machen das jetzt«, haben Lisa Federle und Boris Palmer beschlossen. Die Benefizveranstaltung für den Verein »Bewegt Euch« hat Doppelminister Cem Özdemir (links) moderiert. Foto: Joachim Kreibich
»Wir machen das jetzt«, haben Lisa Federle und Boris Palmer beschlossen. Die Benefizveranstaltung für den Verein »Bewegt Euch« hat Doppelminister Cem Özdemir (links) moderiert.
Foto: Joachim Kreibich

TÜBINGEN. »Ich war heute auf Hölderlin vorbereitet«, scherzt Cem Özdemir und tut so, als müsste er erst noch das richtige Buch suchen. Der Doppelminister (für Landwirtschaft und Bildung) ist am Sonntagabend nach Tübingen gekommen, um auch noch als Moderator zu fungieren: bei der Vorstellung des Gemeinschaftswerks von Lisa Federle und Boris Palmer im mit fast 400 Besuchern voll besetzten Saal des »Museums«. Beide Autoren nutzen den Abend als Benefiz-Veranstaltung für den von Federle mitgegründeten Verein »Bewegt Euch«. Von Anfang an ist klar, es wird einiges zu lachen geben, aber auch eine ernste Botschaft.

Der 59-Jährige Minister verzichtet natürlich auf jede Moderatoren-Gage und stellt gleich klar: Es handelt sich zwar um zwei Ministerien, aber er bekommt dafür nur ein Gehalt. Auch in Berlin gelten also die Regeln schwäbisch-sparsamer Haushaltsführung. Den Ablauf der Veranstaltung haben die Drei nicht detailliert abgesprochen, gibt Federle preis und souffliert dem suchend blätternden Co-Autoren Palmer: »Du fängst auf Seite 45 an«. Der streitbare Oberbürgermeister wiederum gibt sich milde, und verkündet, als es um Themen wie Migration und Zuwanderung geht, bei dem er sich schon mehrmals öffentlichen Ärger eingehandelt hat: »Ich hab versprochen, heute keinen Unsinn zu reden.«

In der Pandemie haben beide sehr eng zusammengearbeitet

Özdemir bekennt, dass ihn das Tübinger Autoren-Duo überrascht hat. »Es ist keine Anklage«, hat er bei der Lektüre festgestellt, und es werde durchaus Optimismus verbreitet. Als Bauprinzip ist ihm aufgefallen: Der Tübinger OB beschreibt oft den politischen Rahmen, die Notärztin liefert mehr die konkreten Erfahrungen - obwohl das nicht immer so stark getrennt ist.

Ausgangspunkt für Federle (63) und Palmer (52) waren die Erfahrungen der Pandemie, wo sie sehr eng zusammengearbeitet haben. Im Buch kommt das Kapitel »Öffnen mit Sicherheit« ziemlich weit hinten, weil sich für die beiden damit ein Kreis schließt. Federle illustriert an Beispielen, wie verheerend sich Kontaktbeschränkungen teilweise ausgewirkt haben: Wenn Angehörige nicht ins Krankenhaus durften und von Angehörigen nicht Abschied nehmen konnten. Wie manche Menschen in der Isolation den Lebensmut verloren haben.

Es kann nahezu jeden treffen

Mit dem Tübinger Modell und Schnelltests haben Federle/Palmer versucht, der Vereinsamung und den gravierenden wirtschaftlichen Folgen zum Beispiel für die Gastronomie entgegenzuwirken. Mit Özdemir sind sie sich einig: Eine bundesweite Aufarbeitung - was lief gut? Was hätte man anders machen müssen? - ist längst überfällig und sollte bald nachgeholt werden. Der Minister findet, die in Tübingen gewonnenen Erfahrungen waren sehr nützlich. »Das hat das Leben sehr erleichtert - auch außerhalb von Tübingen.«

Zufriedene Gesichter: Die Autoren Lisa Federle und Boris Palmer (rechts) mit Moderator Cem Özdemir (links).
Zufriedene Gesichter: Die Autoren Lisa Federle und Boris Palmer (rechts) mit Moderator Cem Özdemir (links). Foto: Joachim Kreibich
Zufriedene Gesichter: Die Autoren Lisa Federle und Boris Palmer (rechts) mit Moderator Cem Özdemir (links).
Foto: Joachim Kreibich

Ganz generell, wenn Federle an anderen Stellen des Buchs schildert, wie gezielte Hilfe Gutes bewirken kann, stellt Özdemir fest: »Man würde jedem eine Lisa Federle wünschen« - und einen Verein wie »Bewegt euch«. Beispielsweise, wenn sie einen Jungen anspricht, der in schlechte Gesellschaft zu geraten droht, und ihn dazu bringt, sein Judo-Training im Verein wieder aufzunehmen. Dem Vater waren die Kosten für die Mitgliedschaft zu hoch. »Bewegt euch« übernimmt sie, der Junge kommt wieder in ein funktionierendes Umfeld und seine Schulnoten verbessern sich so, dass er der Ärztin ganz stolz sein Zeugnis mailt. »Nie wieder Bahnhofstreppe« lautet hier ihr Fazit. Auch sie selbst hat in ihrem Leben schwierige Lebenssituationen bewältigen müssen, bekennt sie. »Es kann nahezu jeden treffen. Mich haben damals die Bücher gerettet.«

Bürokratie verhindert bezahlbares Wohnen

Ausufernde Bürokratie halten beide Autoren für ein gravierendes Problem. Vorschriften und Regeln müssen sein, aber ist wirklich jeder Einzelfall und jedes Detail mit einer Bestimmung festzuhalten? Palmer verweist auf den Bausektor. Zur Jahrtausendwende habe es dort rund 4.000 Vorschriften gegeben, inzwischen schlage man sich mit 20.000 herum. So werde Bautätigkeit erschwert oder verhindert und der Weg zu bezahlbarem Wohnen verhindert. Die Stellplatz-Abgabe ist in den Augen des Oberbürgermeisters kontraproduktiv. »Am besten wäre es, sie einfach zu streichen.« Ein künftiger Ministerpräsident, so sein Rat an Özdemir, könnte das tun, sobald er im Amt wäre.

Lisa Federle berichtet, dass viele Ärzte sich zunehmend durch bürokratische Bestimmungen gegängelt fühlen. Sie wendeten inzwischen 30 Prozent ihrer Arbeitszeit dafür auf, um wie verlangt alle möglichen Dinge zu dokumentieren. Als Notärztin müsse sie erst lückenlos ein Protokoll ausfüllen, bevor sie sich dem nächsten Fall zuwenden könne: Der nächste Einsatz müsse warten, bis die Dokumentationspflicht erfüllt sei.

Das Buch

Lisa Federle, Boris Palmer: »Wir machen das jetzt!: Über den Mut neue Wege zu gehen«. Quadriga-Verlag. 240 Seiten. 24 Euro. (GEA)

Lacher ernten beide, als sie schildern, wie der Lärmschutz beim neuen Feuerwehrhaus in Lustnau die Stadtverwaltung beschäftigte. Unter anderem musste darauf geachtet werden, dass die Anwohner nachts nicht vom Zuschlagen der Autotüren geweckt werden, wenn die Feuerwehrleute eintreffen. Sobald das Einsatzfahrzeug über die Kreuzung rollt, muss aber zwingend das Martinshorn eingeschaltet werden. Die Lärmschutzwand sorge dafür, »dass die Anwohner 30 Sekunden länger schlafen können.«

Das Plädoyer für pragmatisches Handeln kommt an diesem Abend bestens an. Den Reaktionen im Saal nach zu urteilen leuchtet den Besuchern die Botschaft sofort ein. Und auch die Nachfrage auf dem Buchmarkt ist hoch. Schon nach wenigen Tagen musste die zweite Auflage gedruckt werden. Entsprechend dicht ist dann die Signierschlange beim Rausgehen. Wer da rein geriet - und sei's nur aus Versehen - hing noch ziemlich lange fest. (GEA)