TÜBINGEN. Elias Raatz hat mit Tübinger Epplehaus eigentlich gar nichts zu tun. Das hat den Autor, Künstler, Moderator und Verleger nicht daran gehindert, zusammen mit Lucius Teidelbaum ein Buch über das Jugendzentrum herauszugeben. Jetzt ist es in seinem Verlag »Dichterwettstreit deluxe« erschienen. Gestern Abend wurde es im Tübinger Stadtmuseum vorgestellt.
Das Buch: Raatz hat schon einmal über das Tübinger Epplehaus geschrieben: Er steuerte einen Aufsatz über das Jugendzetrum im Sammelband Zeitreise Tübingen bei. Für das größere Projekt eines Buches sei der Verein Epplehaus auf ihn zugekommen, erzählt Raatz. »Eine so spannende Geschichte kann man sich nicht entgehen lassen.« Zusammen mit Lucius Teidelbaum hat er das Projekt in Angriff genommen. Es kam ein 140 Seiten starker reich bebilderter Sammelband dabei heraus, der viel mehr ist als ein Buch über ein Jugendzentrum. Es ist der lebendige Bericht über ein Stück Tübinger Stadtgeschichte. Viele haben dabei mitgewirkt. Neben Zeitzeugenberichten hat das umfangreiche Archiv im Epplehaus als wichtigste Grundlage gedient.
Das Haus: Es ist zweifellos das bunteste Gebäude in der Unistadt. Wer am Bahnhof ankommt und kurz nach rechts blickt, sieht es sofort. 1972 wurde es von Jugendlichen besetzt. Bis heute ist es ein Jugendzentrum, klar politisch links ausgerichtet und immer noch ein »Stachel, der in die Stadtverwaltung pikst«, beschreibt es Raatz. Vier Stockwerke, 30 Zimmer, rund 850 Quadratmeter - das sind die nüchternen Zahlen. Erbaut wurde es 1863 von Zimmermeister Jacob Friedrich Letsche, schreibt Lucius Teidelbaum. Frühere Bewohner waren die Schriftstellerfamilie Hermann, Marie und Isolde Kurz. Bunt und vielfältig sei das Epplehaus schon immer gewesen, so Teidelbaum. Unter anderem wohnten dort ein Amtsarzt, ein Ballettmeister, ein Missionar und ein Lokomotivführer. Seit 1980 gehört es zu den Kulturdenkmälern der Stadt Tübingen.
Die Vorgeschichte: Das Epplehaus hat einen prominenten Vorgänger: Das erste Tübinger Jugendhaus entstand 1959 im Schwabenhaus neben der Neckarmüllerei. 1963 übernahm Manfred Sailer die Leitung. Es muss eine ganz besondere Zeit gewesen sein. Schließlich treffen sich noch heute Ehemalige beim Schwabenhaus-Stammtisch. Raatz hat sie getroffen und sich von der Zeit erzählen lassen. Die heutigen Rentner haben sich gerne an ihre Jugendzeit im Schwabenhaus erinnert. Das Vergnügen am Neckar währte nicht lange. Das Schwabenhaus und die Neckarmüllerei sollten abgerissen werden, um einem Geschäftszentrum Platz zu machen. Ein Protest des Landesdenkmalamts konnte zumindest den Abriss des Schwabenhauses verhindern. Die Zukunft des Jugendclubs blieb dennoch ungewiss. 1972 brannte das Haus. Wie der Schwelbrand entstanden war, ist bis heute ungeklärt. Der damalige Oberbürgermeister Hans Gmelin lehnte es ab, eine Übergangslösung zu finden. »Es ist wohl nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, Jugendlichen ihr Tanzvergnügen zu finanzieren«, sagte Gmelin.
Die Hausbesetzung: »Wir haben Grund zur Annahme, dass man uns, die Tübinger Jugendlichen, rigoros abschieben will.« Die Jugendlichen ließen sich das nicht gefallen. Es wurde ein geheimer Plan geschmiedet. Am 23. Juni 1972 wurde das Haus in der Karlstraße 13 besetzt. Es stand zu diesem Zeitpunkt seit drei Monaten leer. Der Aktion ging ein Konzert der Band »Ton Steine Scherben« in der Mensa Wilhelmstraße voraus. Die Gruppe war eine Ikone der Hausbesetzerszene. Den Hausbesetzern war allerdings ein kleiner Irrtum unterlaufen: Das Gebäude in der Karlstraße gehörte nicht, wie angenommen, der Stadt, sondern der Kreissparkasse. Geräumt wurde es dennoch nicht. Unter anderem Oberbürgermeister Gmelin setzte sich für eine friedliche Lösung ein. Die Stadt mietete das Haus von der Kreissparkasse an.
Der Namensgeber: Die Tübinger kennen das bunte Gebäude in der Karlstraße unter dem Namen Epplehaus. Um diesen Namen wurde allerdings jahrelang gestritten. Er geht auf Richard Epple zurück, einem Jugendlichen aus Breitenholz, der im Alter von 17 Jahren von der Polizei erschossen wurde. Zuvor hatte er sich eine wilde Verfolgungsjagd mit den Beamten geliefert. Er war im Auto ohne Führerschein unterwegs, geriet in Panik und raste davon. Es war die Zeit der RAF-Terroristen, entsprechend aufgeladen war die Stimmung. Für die Tübinger Jugendlichen und Studenten war Epple das Opfer des Polizeistaates. In seiner Heimatgemeinde wurde Epple dagegen als Verbrecher diffamiert. »Ein Verbrecher war mein Bruder nicht. Und ein Held auch nicht, schon gar kein politischer. Sondern ein Bursch', der zu früh den Vater verloren hat und mit dem die Mutter nicht fertig geworden ist«, zitiert Raatz den Bruder Erich Epple.
Die Selbstverwaltung: Es ist das älteste selbstverwaltete Jugendhaus in Baden-Württemberg, sagt Reetz. Schon im Jugendclub im Schwabenhaus waren die Jugendlichen an der Gestaltung beteiligt. Aber erst im Epplehaus übernahmen sie selbst die volle Verantwortung. Dafür bekamen sie nicht nur den Schlüssel, sondern auch ein Startkapital über 35.000 D-Mark von der Stadt. Die Phase der Renovierungsarbeiten begann. Es entstand unter anderem eine Teestube, ein Billardzimmer, eine Disco im Keller. Arbeitsgruppen wurden gebildet, Versammlungen abgehalten. Am 2. Dezember 1972 wurde das Haus offiziell eröffnet.
Die Fassade: Das Haus war nicht von Anfang an so bunt, wie es sich heute präsentiert. Die gesamte Fassade wurde erst 2006 im Rahmen des Ract-Festivals bemalt. Dafür spendierte die Stadt eine große Zahl an Spraydosen. Zehn Jahre später war das Epplehaus für die Bemalung ein weiteres Mal eingerüstet. Wechselnde politische Botschaften auf dem Haus erregen immer wieder Aufsehen und bieten Konfliktstoff.
Die Musik: Für die Tübinger Musiker und Subkultur war und ist das Epplehaus eine große Spielwiese. Punk und Metal wird gespielt, das sind aber nicht ausschließlich die Musikrichtungen. Als Tübinger Band konnte man sich schon immer vorstellen und fragen, ob man spielen darf, erzählt Reetz. In der Regel kam dann die Antwort »Klar, mach doch einfach.« Das hat sich bis heute nicht geändert. »Man kann auch heute in die Vollversammlung gehen und sein Ding vorstellen.«
Die Gegenwart: »Das Epplehaus hat viele aufgefangen«, erzählt Reetz. Auch das ist immer noch so. »Wenn man nicht der Norm entspricht, fühlt man sich dort zu Hause.« Nach wie vor könne man im Jugendhaus in der Karlstraße so sein, wie man möchte. Zumindest, wenn man nicht aus dem rechten Lager kommt. Denn auch an der politischen Ausrichtung hat sich nichts geändert. Das Jugendzentrum war und ist links orientiert und antifaschistisch. (GEA)