TÜBINGEN. Baden-Württemberg lockert die Bestimmungen. Beim Einkaufen reichen wieder Maske und Abstand. Die 3-G-Regel wird abgeschafft. Vertreter von Handel und Gastronomie forderten zusammen mit OB Boris Palmer am Dienstag, die Lockerungen auch auf die Gastronomie auszuweiten. Beide Branchen brauchten zudem weitere Unterstützung. Viele Betriebe seien nicht mehr in der Lage, die erlittenen Umsatzverluste auszugleichen.
Boris Palmer ist überzeugt: Zu wenigen ist klar, wie dramatisch die Lage für einen Großteil der Wirte und Händler ist. Dass viele bis jetzt durchgehalten haben, heiße nicht, dass bei ihnen alles noch mal gut gegangen sei. Beide Branchen hätten als Prellbock herhalten müssen, weil die Politik auf eine generelle Impfpflicht verzichtet hat, aber Anreize schaffen wollte, damit sich Bürger impfen lassen.
Vertreter von Handel und Gastronomie schilderten ihre wirtschaftliche Lage und beklagten: Wer weniger als 30 Prozent minus hat, bekommt keine Überbrückungshilfe. Bei Osiander sei dies 2021 in zehn Monaten der Fall gewesen, betonte Osiander-Geschäftsführer Christian Riethmüller. Beim Modehaus Zinser liegt der Umsatzrückgang des noch nicht abgeschlossenen Geschäftsjahres nach Angaben von Christian Klemp bei 21 Prozent. Auch der Zinser-Geschäftsführer macht sich große Sorgen.
Manche sprechen deshalb von einer »Todeszone«. Sie alle sehen die große Gefahr, dass manche Läden ohne weitere Hilfen nicht mehr durch die Krise kommen und aufgeben müssen. Riethmüller regt den Verzicht oder eine starke Absenkung der Mehrwertsteuer an. Für Palmer steht fest: »Wir müssen die Betriebe aus der Todeszone holen.«
»Wir müssen die Betriebe aus der Todeszone holen «
Wer lebendige Innenstädte will, braucht einen starken Handel, sagt der grüne OB. Und der Handel wiederum hat nur eine Chance, wenn’s auch eine funktionierende Gastronomie gibt, bekräftigen Riethmüller, Klemp und Palmer unisono.
Danach sieht’s allerdings nicht aus, betont Alexander Stagl von der Tübinger Wirte-Vereinigung Tü-Gast. Nach einer aktuellen Umfrage des Gaststättenverbands sei ein Viertel der Cafés und Gaststätten in Baden-Württemberg derzeit geschlossen. Die, die offen haben, haben mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen. Viele Reservierungen werden abgesagt. »Wir hängen alle ein bisschen in der Luft. Und Anrufer fragen immer als Erstes, ›was gilt denn gerade‹«?
Sabine Hagmann hat als Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg die Lage sehr genau im Blick und findet: »Die Auswirkungen sind dramatisch.« Eine Blitzumfrage unter 400 Händlern habe ergeben, dass der Umsatzverlust pro Pandemie-Monat bei 29 Prozent liege, im Sektor Textil sogar bei minus 37. »Das ist ein Umsatz, bei dem man nur sterben kann.«
Die zusätzlichen Kontrollen binden Kräfte, viele Mitarbeiter kündigten, weil sie es leid seien, an der Eingangstür als Blitzableiter für gefrustete Kunden zu dienen. Gleichzeitig bescheinigten Gutachten den Händlern, dass das Ansteckungsrisiko mit Maskenpflicht und Einhaltung der Abstände gering sei und die Branche nicht zu den Treibern der Pandemie zähle. Ohne Restrukturierungs-Fonds werde es für viele unmöglich, über die Krise hinwegzukommen. Hagmann: »Das wird ein Kraftakt«.
Klemp und Riethmüller bestätigen den Eindruck der Verbandssprecherin. Zinser hat demnach an den insgesamt sieben Standorten 120 von 720 Mitarbeitern verloren. »Sie haben es über so lange Zeit nicht mehr ausgehalten«. In Zeiten von Kurzarbeit mussten sie nicht nur beim Lohn Einbußen hinnehmen, auch die Provisionen fehlten. Das Modehaus zählte im letzten Januar vor Corona in Tübingen 83 000 Besucher, ganz aktuell im Januar 2022 aber nur noch 41 000.
»Das ist ein Umsatz, bei dem man nur sterben kann«
Osiander hat sogar im Weihnachtsgeschäft rote Zahlen geschrieben. Im Dezember habe das Umsatzminus 28,7 Prozent betragen, erklärt Riethmüller.
Palmer sieht »eine absolute Schieflage« zwischen den Branchen. Die Industrie beispielsweise berichte von guten Auftragslagen. Gastronomie und Handel dagegen, die für die Attraktivität einer Stadt eine unverzichtbare Rolle spielten, seien hart getroffen. Der Grünen-Politiker äußert Sympathie für Riethmüllers Forderung nach Absenkung der Mehrwertsteuer und hält Hilfsprogramme für unabdingbar.
Lockdown und Zugangsbeschränkungen haben sich nach Palmers Beobachtung wie ein »Förderprogramm für Amazon & Co« ausgewirkt. Hagmann hat ebenfalls beobachtet, dass die großen E-Commerce-Plattformen ihren Kundenstamm in der Pandemie enorm erweitert und ein Investitions-Polster geschaffen haben.
Zwar haben auch kleinere Händler ihre Online-Aktivitäten ausgeweitet. Doch Klemp illustriert mit dem Hinweis auf eigene Erfahrungen, dass zwischen dem Handel im Netz und dem Einkaufsbummel in der Stadt manchmal Welten klaffen. Der Online-Umsatz bei Zinser entspreche inzwischen dem einer kleineren Filiale. Doch: »50 bis 60 Prozent der Ware kommt wieder retour.« Wenn 92 000 von 180 000 Paketen zweimal hin und her geschickt werden, ohne dass es zum Kauf kommt, ist das auch nicht gut für die Klimabilanz. (GEA)

