TÜBINGEN. Es ist, als hätte es nie einen unbeschwerten Sommer gegeben: Derzeit sterben in Deutschland pro Tag an oder mit Covid-19 Hunderte Menschen, Intensivstationen stehen am Limit, offene Weihnachtsmärkte zu finden fällt schwer. Viele Bürger hatten ihre Hoffnung auf ein normales Leben in die Impfung gesetzt. Die Ungeimpften scheinen ihnen jetzt einen Strich durch die Rechnung zu machen. Je höher die Inzidenzen klettern, umso lauter wird der Ruf nach der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Auch Politiker machen sich inzwischen dafür stark. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat in der Corona-Pandemie immer wieder mit besonderen Vorschlägen auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt fordert er eine Impfpflicht für alle Menschen, die älter als 60 sind – und bringt damit in die Debatte zusätzlich Schwung.
GEA: Herr Palmer, die Corona-Situation in Deutschland scheint außer Kontrolle geraten zu sein. Als Oberbürgermeister haben Sie Verantwortung für eine ganze Stadt. Haben Sie Angst?
Boris Palmer: Angst ist nicht der richtige Begriff, aber Sorge macht mir die Lage schon. Sorge um Beschäftigte in den Kliniken, Sorge um Konflikte in der Gesellschaft und auch Sorge um Betriebe, die wieder von Schließungen bedroht sind – so, wie es ja mit den Ausstellern auf Weihnachtsmärkten jetzt schon angefangen hat. Insgesamt ist die Lage jedenfalls wieder sehr sehr ernst.
Viele Menschen fordern jetzt harte Maßnahmen. Der baden-württembergische Landeschef Winfried Kretschmann hat zusammen mit Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident, für die Impfpflicht geworben. Sie sind jetzt plötzlich auch dafür. Warum?
Palmer: Plötzlich? Ich habe bereits am ersten November vorgeschlagen, die Impfpflicht genauer zu betrachten – und zwar für über 60-Jährige. Warum ab 60? Jüngere Menschen benötigen bei einer Corona-Erkrankung höchst selten ein Intensivbett. Die Intensivstationen behandeln vor allem Menschen über 50 Jahre, drei Viertel der Patienten dort sind sogar über 60. Eine Impfpflicht für ungeimpfte Menschen über 60 würde drei Millionen Menschen betreffen. Wenn wir diese drei Millionen schnell impfen, würde die Zahl der Corona-Intensivpatienten sich halbieren. Wenn ich das gegenüberstelle – eine Impfpflicht für Menschen, deren Todesrisiko durch die Impfung um 90 Prozent sinkt auf der einen Seite, und die Wiederkehr der Lockdown-Debatten und überlasteten Kliniken auf der anderen Seite – dann finde ich die Impfpflicht das kleinere Übel.
Sie sind der erste Politiker in Deutschland, der öffentlich nach einer Impfpflicht ab 60 ruft …
Palmer: Es ist doch so: Eine Impfpflicht für über 60-Jährige würde ausreichen, um das Überlastungsproblem der Intensivstationen zu lösen. Eine solche Impfpflicht wäre also verhältnismäßiger als die allgemeine Impfpflicht. Dazu kommt: Um eine allgemeine Impfpflicht rasch durchzuführen, hätten wir derzeit nicht genügend Impfstoff. Für die überschaubare Zeit bis Weihnachten würde uns nur die möglichst vollständige Impfung der über 60-Jährigen helfen. Pragmatisch ist das einfach richtig. Für mich zählen die Fakten mehr als die Befindlichkeiten.
Die Impfpflicht für über 60-Jährige müsste also sofort kommen, um die vierte Welle zu brechen?
Palmer: Wenn wir jene 15 Prozent der 60-Jährigen, die bisher nicht geimpft sind, in den nächsten vier Wochen impfen lassen würden, wäre das tatsächlich geeignet, die vierte Welle zu brechen. Die Infektionszahlen sinken dadurch nicht. Die Überlastung der Kliniken würden wir aber stoppen. Ich würde die Impfpflicht für über 60-Jährige daher als ersten Schritt einführen.
Und als zweiten Schritt?
Palmer: Dann würde man sehen, wie stark der Effekt ist, wie stark die Kranken- und Todeszahlen zurückgehen und ob eine Erweiterung der Impfpflicht auf jüngere Jahrgänge noch notwendig und angemessen ist. Das könnte in sechs oder acht Wochen sicher beurteilt werden.
Bedeutet: Die Ampel müsste Ihren Vorschlag jetzt schnell umsetzen. Ist das realistisch?
Palmer: Ich stelle erst einmal fest, dass fast alle Ministerpräsidenten in den letzten Tagen gesagt haben, dass sie für eine Impfpflicht sind. Der Städtetag hat letzte Woche einen ähnlichen Beschluss gefasst und die Bewegung dahin geht gerade sehr schnell. Ich weiß nicht, wie das ausgeht, aber ich halte es sehr wohl für möglich, dass die Impfpflicht bald kommt.
Wie verfassungsmäßig kann eine Impfpflicht sein, die nur bestimmte Altersgruppen im Blick hat?
Palmer: Juristische Stellungnahmen, die ich kenne, sagen, dass die Impfpflicht ab 60 Jahren verfassungsrechtlich leichter zu begründen ist als eine allgemeine Impfpflicht, weil bei den über 60-Jährigen der individuelle Schutz vor schwerer Erkrankung so stark ist, dass er sogar den Schutz der Allgemeinheit überwiegt. Bei einem zehnjährigen Kind ist das anders: Da ist das individuelle Risiko durch Corona sehr klein – und die Impfung nutzt vor allem der Allgemeinheit. In diesem Fall ist es verfassungsrechtlich schwieriger, eine Impfpflicht zu begründen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Behauptung, es ginge etwas nicht, oft nur dazu dient, nicht zugeben zu müssen, dass man etwas nicht will. Die Masern-Impfpflicht für Kinder gibt es ja auch. Dass es verfassungsrechtlich nicht möglich sein soll, uns vor diesen ewigen Lockdown-Spiralen zu schützen, bestreite ich.
Denken Sie bei der Durchsetzung der Impfpflicht eigentlich an Bußgelder – oder werden Impfunwillige bald zum Impfarzt geschleift?
Palmer: In der Praxis geht es auf keinen Fall um Zwangsimpfung. Die ist natürlich verfassungswidrig – als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Es geht darum, dass der Staat eine Impfpflicht mit Bußgeldern durchsetzen kann. Das wird auch reichen. Die allerwenigsten Menschen werden bereit sein, 1 000 Euro zu bezahlen, nur um sich nicht impfen zu lassen.
Zu Massenprotesten jedenfalls sind viele Menschen bereit. Die Bilder aus Wien sind erschreckend. Wird es Demonstrationen mit Zehntausenden Menschen auch in Deutschland geben, sollte die Impfpflicht kommen?
Palmer: Ich glaube schon, dass es Demonstrationen geben würde, aber keine Massenproteste.
Eine weitere Spaltung der Gesellschaft fürchten Sie nicht?
Palmer: In der Tat sehen wir derzeit eine Spaltung der Gesellschaft – auch verbunden mit der Wut der Geimpften auf die vermeintlich schuldigen Ungeimpften. Ich bin mir aber sehr sicher, dass wir sowohl zur Vermeidung von solchen gesellschaftlichen Konflikten als auch zur Bekämpfung der Corona-Pandemie besser fahren, wenn wir jetzt eine Impfpflicht einführen. Die vielfältigen Benachteiligungen der Ungeimpften im Alltag hören dann auf und nach der Impfung werden die meisten schnell erkennen, dass es sich auch für sie gelohnt hat.
Eine letzte Frage: In einem Ihrer Facebook-Beiträge spielen Sie in Bezug auf die Impfpflicht mit den Begriffen »Verantwortung«, »Pflicht« und »Tugend«. Was genau meinen Sie damit?
Palmer: Pflicht ist etwas, das man selber spürt und das gar nicht erst durch äußeren Zwang durchgesetzt werden muss. Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, kann zur Folge haben, dass man selbst eine Intensivbehandlung braucht, mehr Intensivbetten benötigt werden, Pfleger und Ärzte überlastet sind, zur Vermeidung dieser Probleme Geschäfte geschlossen werden, Menschen in die Arbeitslosigkeit fallen … Wer sich das klarmacht, muss meiner Meinung nach in sich selbst eine Pflicht empfinden, sich impfen zu lassen, ohne dass der Staat da weitere Maßnahmen ergreift. Das verstehe ich unter einer Pflicht. Ich halte Pflichterfüllung für eine Tugend. (GEA)
ZUR PERSON
Boris Palmer (49) ist seit 2007 Tübinger Oberbürgermeister. Seit 1996 ist er Mitglied der Grünen. Für die Partei war Palmer von 2001 bis 2007 Landtagsabgeordneter in Stuttgart. Der Realpolitiker mischt sich immer wieder in bundes- und landesweite Debatten ein und ist häufig in Talkshows zu Gast. In der Pandemie äußert sich Palmer immer wieder zur Corona-Politik. Zusammen mit der Tübinger Notärztin Lisa Federle stellte er ein Testkonzept auf die Beine, das unter dem Namen »Tübinger Modell« für Aufmerksamkeit sorgte. (GEA)