Einer der prominentesten Vertreter der Tübinger Schwulenszene ist Helmut Kress. Der heute 71-Jährige hatte schon früh homosexuelle Kontakte, die er in den Parkanlagen am Neckarufer fand. Als 16-jähriger Lehrling zum Bauzeichner im Technischen Rathaus Tübingens wurde er an seinem Arbeitsplatz festgenommen und zu 14 Tagen Einzelhaft verurteilt. Wer ihn angezeigt hatte, wusste er damals nicht. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass der damalige Oberbürgermeister Hans Gmelin ihn nach dem Fund eines Liebesbriefes vor Gericht stellen ließ.
Wegen der Liebe verfolgt
Wegen der Verurteilung konnte Kress seine Lehre nicht weiterführen, machte eine Ausbildung bei einer Schneiderin, entdeckte aber in den 60er-Jahren die Gastronomie für sich und ist jetzt Inhaber der Alten Weinstube Göhner in der Schmidtorstraße. Erste Erfahrungen hatte er im Pub 13 in der Tübinger Altstadt gesammelt, wo sich überwiegend homosexuelle Männer trafen. Kress lebte lange in Berlin, wo er sich als »Poldi« ein österreichisches Image zulegte. Nach Zwischenstationen in Hotels in Bayern und Österreich kehrte er nach Tübingen zurück.Ein weiterer bekannter Tübinger Schwuler ist der Verleger und Kunstsammler Christoph Müller, der ab 1969 über 35 Jahre Miteigentümer und Chefredakteur des Schwäbischen Tagblatts war. An seinem ersten Arbeitstag habe er ein Paket mit einem Strick und der Notiz: »Häng dich auf du schwules Schwein« erhalten, berichtet Steinle.
Bis 1969 wurden auch in Tübingen Männer ihrer Liebe wegen verfolgt. Grundlage dafür war der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der noch aus der Kaiserzeit stammte und von den Nationalsozialisten noch einmal verschärft worden war. Auch nach 1945 blieb er unverändert bestehen, in den 50er-Jahren wurden mehr Homosexuelle verhaftet als je zuvor.
Häftlinge mit Rosa Winkel
Rauch macht auf das Haus in der Münzgasse 13 aufmerksam, das 1936 Außenstelle der Gestapo war, und in dem eine zentrale Kartei zur Verfolgung von Homosexuellen angelegt wurde. Reichsweit gab es über 100 000 Verfahren und 57 000 Verurteilungen. Allein in Tübingen gab es 6 000 Häftlinge mit dem rosafarbenen Winkel, der sie als Homosexuelle auswies. Von den Namen der Opfer sind allerdings nur wenige bekannt.Steinle stellt den Juristen, Sozialdemokraten, Juden und Homosexuellen Fritz Bauer vor, dessen Eltern bis zur Enteignung ein Textilfachgeschäft in der Kronenstraße betrieben. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil brachte er als Generalstaatsanwalt in Frankfurt die Auschwitzprozesse gegen SS-Leute der nationalsozialistischen KZs ins Rollen. Erst kürzlich wurde in Erinnerung an ihn die Tübinger Scheefstraße in die Fritz-Bauer-Straße umbenannt.
In der Oberen Neckarhalde 16 hatte sich 1969 der Verein Salon der Hundert gegründet. Sein Ziel: einen alternativen Ort der Begegnung und Kultur zu schaffen. Dort traf sich auch die Schwulenszene. Seele des Vereins war die bisexuelle, stets schwarz gekleidete Lilli Schönemann, die sich selbst »Jeanne« nannte. Als »einziges Abenteuer« bezeichnet Kress den Club, der nach 1977 in einen Gewölbekeller im Wiener Gässle umzog.
In der Nachkriegszeit bildeten sich in ganz Deutschland homosexuelle Freundeskreise. Im Tübinger Club Voltaire traf sich die Initiativgruppe Homosexualität. Er wurde in den 70ern zur festen Adresse für Schwule und Lesben. Seit 1950 gab es Bestrebungen, den Paragrafen 175 abzuschaffen. Nach mehreren Reformen wurde er 1994 aufgehoben. Im März dieses Jahres wurde ein Gesetzesentwurf verabschiedet, die bundesweit 50 000 Männer zu entschädigen, die nach dem Paragrafen verurteilt worden waren. (GEA)

