TÜBINGEN. Bedrohung, Beleidigung und Körperverletzung: Die Liste der Anklagepunkte, die am Dienstag von Staatsanwalt Marian Jander vor der 2. Großen Strafkammer des Tübinger Landgerichts vorgetragen wurde, war lang. Ein 52-jähriger Tübinger war in den vergangenen Jahren immer wieder durch Sachbeschädigungen und Übergriffe auf Menschen aufgefallen, ohne dass den Taten ein besonderes Motiv zugrunde gelegen hätte. Aktuell ist er in fünf Fällen angeklagt, die er zwischen 2022 und 2024 begangen haben soll.
Im August vergangenen Jahres wurde der psychisch kranke Mann, der in den vergangenen acht Jahren obdachlos war, deshalb in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Im Verfahren soll nun ebenfalls geklärt werden, ob der 52-Jährige weiterhin zwangsweise in der Einrichtung bleiben muss. »Seit dem Krankenhausaufenthalt geht es mir besser«, erklärte er vor Richter Dr. Christoph Kalkschmid. Der Vizepräsident des Landgerichts Tübingen hat den Vorsitz von Simon Salzbrunn übernommen, der den vorherigen Prozesstag im Januar noch geleitet hatte. Für die Anklage übernahm Jander das Ruder von Felix Schmidhäuser.
Diagnose kam vor fünf Jahren
Auch wegen des Personalwechsels gingen Richter und Staatsanwaltschaft wohl nochmal detailliert auf die Lebensgeschichte des Angeklagten ein. War der 52-Jährige im Januar noch kaum redselig, führte er dem Gericht seinen Werdegang nun mit allen wichtigen Stationen geduldig auf. Der ausgebildete Automatisierungstechniker arbeitete sich von der Hauptschule bis zur Fachhochschulreife hoch, studierte drei Semester Maschinenbau in Esslingen, wechselte danach aber aufgrund seiner Erkrankung oft die Arbeitsstelle - zumindest seiner eigenen Einschätzung nach. Auch die spätere Selbstständigkeit des Angeklagten scheiterte letztlich daran: »Die wurde durch die Krankheit zunichte gemacht.«
Erst vor rund fünf Jahren wurde bei dem 52-Jährigen paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Dass er an einer psychischen Erkrankung litt, war dem Techniker schon länger klar, auch in der Vergangenheit musste er einige Monate in einer Klinik verbringen. Danach hat es ihn nicht länger als ein paar Monate in einem festen Arbeitsverhältnis gehalten. »Ich fühlte mich gemobbt und unter Druck gesetzt«, erklärte der 52-Jährige mit Blick auf sein Arbeitsleben. In seiner Familie gab es schon einen Fall von Schizophrenie. Obwohl er das Krankheitsbild deshalb seit seinem sechsten Lebensjahr kenne, habe sich seine Krankheit »nie so angefühlt«, wie er vor Gericht zugab. Seine Angstzustände, ausgelöst durch die Krankheit, habe er mittlerweile dank einer Therapie im Griff. Trotzdem müsse er weiterhin starke Medikamente zu sich nehmen.
Übergriffe wurde immer mehr
Seit der Angeklagte 2016 aus dem Haus ausgezogen war, in dem er mit seiner damaligen Frau und den gemeinsamen Kindern gewohnt hatte, lebte er in prekären Verhältnissen: zuerst im eigenen Auto, dann in einem Verschlag im Wald. Seitdem - so zeigen es einige der insgesamt 20 Einträge ins Bundeszentralregister - fiel der Angeklagte im Tübinger Stadtgebiet immer mehr auf. In einem Parkhaus schlug er auf eine Überwachungskamera ein, warf dabei Flaschen nach zwei jungen Männern, bedrohte einen Spaziergänger im Wald mit einem Stock und beschimpfte ihn als »Arschloch«. Dass er 2022 auf dem Marktplatz eine Tasse nach Oberbürgermeister Boris Palmer geworfen haben soll, verneint der Angeklagte vor Richter Kalkschmid. In den zahlreichen genannten Fällen war er aufgrund seiner Erkrankung schuldunfähig.
Im Gerichtssaal
Richter: Dr. Christoph Kalkschmid (Vorsitzender), Alexander Fleck, Bernd Große. Schöffen: Dr. Petra Krüger, Gerhard Maier. Staatsanwalt: Marian Jander. Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs. Psychiatrische Gutachterin: Dr. Claudia Hartmann-Rahm. (GEA)
Dass die Übergriffe immer mehr wurden, bestätigte eine als Zeugin geladene Polizistin. »Es entwickelte sich von sonderbarem Verhalten zu tätlichen Angriffen und einer Vielzahl von Sachbeschädigungen«, erklärte die 46-Jährige auf Nachfrage. Aufgrund der Personenbeschreibungen von Geschädigten konnten die Tübinger Beamten über die Jahre viele Vergehen dem 52-Jährigen zuordnen. So auch einen Vorfall im Oktober 2022, als der Angeklagte - von einem Passanten auf der Straße wegen seines lauten Geschreis angesprochen - diesen mit einer Holzlatte bedrohte und schließlich von hinten attackierte. »Hätte mein großer Wanderrucksack nicht meinen Kopf geschützt, hätte mich der Angeklagte dort erwischt«, erklärte der 31-jährige Zeuge.
Im weiteren Verlauf der Verhandlung werden weitere Zeugen gehört, zudem rückt das medizinische Gutachten genauer in den Blick. Der Prozess wird am Freitag fortgeführt, noch stehen insgesamt drei weitere Verhandlungstage auf dem Programm. (GEA)