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Amseln nisten in Tübinger Fahrradparkhaus

Im oberirdischen Fahrradparkhaus am Tübinger Hauptbahnhof geht es gerade sehr lebendig zu: Ausgerechnet zwischen den Bikes hat sich ein Amselpärchen zur Brut entschlossen.

Eine Woche nach ihrer Entdeckung haben sich die Jungtiere prächtig entwickelt. Das Gefieder scheint fast vollständig zu sein.
Eine Woche nach ihrer Entdeckung haben sich die Jungtiere prächtig entwickelt. Das Gefieder scheint fast vollständig zu sein. Foto: Alexander Thomys
Eine Woche nach ihrer Entdeckung haben sich die Jungtiere prächtig entwickelt. Das Gefieder scheint fast vollständig zu sein.
Foto: Alexander Thomys

TÜBINGEN. Einstmals dürfte der Drahtesel seine Besitzerin zuverlässig von A nach B gebracht haben. Und auch wenn das Sundance-Damenrad mit einem gebrochenen Rücklicht-Reflektor nicht ganz jung aussieht, so macht es doch einen insgesamt gepflegten Eindruck. Der Sattel ist zum Schutz gar mit einem leuchtgrünen Überzug versehen. Nur ein Flyer im Gepäckträger eingespannter Flyer, der zur Klimademo am 20. September aufruft, deutet an, dass das Rad schon längere Zeit im Tübinger Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof steht. Weitaus länger jedenfalls, als die Räder in der »Kurzzeitparkanlage«, so informiert die Stadt, stehen sollten.

Entfernt wurde das Fahrrad jedenfalls nach vier Wochen, wie es auf Plakaten angekündigt wird, nicht. Und vielleicht hat auch die Besitzerin das Rad bewusst stehen lassen, als sie es einmal von der oberen Ebene im Parkhaus herunterziehen wollte - und dann eine Überraschung erlebte. Denn ganz vorne, im an den Lenker montierten Fahrradkorb, brütete in den vergangenen Wochen ein Amselpärchen. Mit großem Engagement: Immer wieder flogen die Elterntiere zur nahen Grünfläche auf dem Europaplatz, um Futter für die Jungtiere zu ergattern. Und als der GEA-Redakteur das Nest zu lange in sein Kamera-Visier nahm, hörte man die Eltern, die alles mit Argusaugen beobachteten, in heller Empörung zwitschern.

Wohl noch keine vier Tage alt waren die beiden Jungtiere bei ihrer Entdeckung am 2. April.
Wohl noch keine vier Tage alt waren die beiden Jungtiere bei ihrer Entdeckung am 2. April. Foto: Irmgard Walderich
Wohl noch keine vier Tage alt waren die beiden Jungtiere bei ihrer Entdeckung am 2. April.
Foto: Irmgard Walderich

Überhaupt war es das Brutpaar, das durch seine wiederholten Anflüge ins Parkhaus den Beobachter erst auf das Nest aufmerksam machte. Und da dürften die beiden Jungtiere erst kurz zuvor aus den Eiern geschlüpft sein, waren sie doch noch fast nackt und hatten ihre Augen geschlossen. Nur rund 25 Gramm bringen die Jungtiere zu dieser Zeit auf die Waage. Und doch hatten sie einen guten Start ins Leben: Im Parkhaus herrscht zwar immer wieder kurzzeitig Betrieb, doch dürften sich Katzen nur selten in den Bau verirren, der zugleich vor den Unbillen der Witterung so manchen Schutz bietet. Und der Fahrradkorb, der das Nest umhegte, war zugleich ein guter Rausfallschutz.

Rebecca Strege, Tierpflegerin beim Vogelschutzzentrum des Naturschutzbundes in Mössingen, wundert sich nicht über den für den Laien seltsam anmutenden Nistort der Amseln. Auch in Motorhauben, Rolladenkästen oder in Zeitungsbriefkästen seien ihnen schon Nester gemeldet worden. »Das Fahrrad braucht auch gar nicht so lange im Parkhaus unbewegt zu stehen, die Amseln entscheiden sich meist innerhalb von einer Woche, wo sie nisten«, berichtet Strege. Freiwillig suchen sich die Tiere solche Nistplätze wohl nicht aus, vermutet die Tiepflegerin; vielmehr seien die Amseln als Kulturfolger des Menschen inzwischen gezwungenermaßen nicht wählerisch: »In den Städten herrscht oft Platzmangel an naturnahen Nistplätzen, deshalb suchen sich die Vögel auch von Menschen gemachte Stellen.«

Die ersten Flugversuche zwischen den abgestellten Rädern zeigen von Tag zu Tag mehr Erfolg.
Die ersten Flugversuche zwischen den abgestellten Rädern zeigen von Tag zu Tag mehr Erfolg. Foto: Alexander Thomys
Die ersten Flugversuche zwischen den abgestellten Rädern zeigen von Tag zu Tag mehr Erfolg.
Foto: Alexander Thomys

Das bestätigt auch Max Blon vom Bund für Umwelt- und Naturschutz im Regionalverband Neckar-Alb. »Meine persönliche Beobachtung ist die, dass Amseln bei der Wahl ihrer Nistplätze nicht sehr wählerisch sind«, schreibt der BUND-Vertreter auf GEA-Anfrage. »Ich habe schon Nester in leicht zugänglichen Hecken, direkt über meinem privaten Radabstellplatz oder fast auf Bodenniveau gesehen. Die Brut wird dann leider oft vom Marder geholt...« Im aktuellen Tübinger Fall ging die Sache dagegen gut aus: Beim zweiten Fototermin, eine Woche nach der Entdeckung des Vogelnests im Fahrradkorb, war das Gefieder der beiden Jungtiere fast vollständig ausgeprägt. Etwa 65 Gramm wiegen die Jungvögel, die locker in eine Faust zu passen scheinen, zu diesem Entwicklungsphase nach rund zehn Tagen, lässt sich im Netz recherchieren.

In ihrer Unterkunft, die sich das Brutpaar nicht nur mit ihrem Nachwuchs, sondern zeitweise auch mit einem Obdachlosen teilt, entwickeln sich die Jungtiere dennoch problemlos zu prächtigen, sogenannten Estlingen. Zu diesem Zeitpunkt verlassen die Jungvögel das Nest - ohne schon wirklich fliegen zu können. Ihre Flugversuche faszinieren, wenn man sich die Zeit nimmt, die Vögel in der Fahrradabstellanlage zu beobachten. Da wird von Fahrrad zu Fahrrad gehüpft, kleine Sturzflüge unternommen und dann doch auch einmal erfolgreich die Hallendecke erreicht. Gut beobachtet vom Brutpaar, das dem Nachwuchs zur Stärkung auch den ein oder anderen Wurm vorbeibringt.

Das Brutpaar hat weiterhin ein wachsames Auge auf den Nachwuchs. Kommt der Fotograf zu nahe, wird empört gezwitschert.
Das Brutpaar hat weiterhin ein wachsames Auge auf den Nachwuchs. Kommt der Fotograf zu nahe, wird empört gezwitschert. Foto: Alexander Thomys
Das Brutpaar hat weiterhin ein wachsames Auge auf den Nachwuchs. Kommt der Fotograf zu nahe, wird empört gezwitschert.
Foto: Alexander Thomys

Das Nest im Fahrradkorb ist zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. »Sobald die Jungtiere einmal ausfliegen, wird das Nest zweitrangig«, berichtet Vogelschützerin Strege. Zwar könne es sein, dass die Estlinge das Nest noch einige Male zum Übernachten nutzen, meist aber dürften sich die Amseln aber außerhalb aufhalten. Und in Büschen und Hecken übernachten - sofern es genügend Natur in ihrer Nähe gibt. Während die jetzt rund 70 Gramm leichten Kleinen das Fliegen lernen, bleiben die Vogeleltern in Habachtstellung. Wirklich gefährlich können die Amseln menschlichen Beobachtern aber nicht werden. »Amseln kümmern sich sehr besorgt um ihren Nachwuchs, Menschen gefährlich werden können sie aber nicht«, weiß Strege. »In der Regel sind Amseln Fluchttiere.« Weshalb Ruhe für die junge Vogelfamilie oberstes Gebot ist - und diese Geschichte auch erst erscheint, nachdem die Jungtiere zügig das Weite suchen können, wenn ihnen Neugierige Menschen zu nahe kommen.

Grundsätzlich wünscht sich Rebecca Strege, dass solcher Bruterfolg in exponierten Lagen seltener nötig wäre. »Hier kann jeder dazu beitragen, indem er seinen Garten naturnah gestaltet und auch einmal etwas Wildwuchs zulässt«, fordert die Tierfplegerin des Vogelschutzzentrums mehr Mut zu Grün. Denn in (ohnehin meist verbotenen) Steingärten und auf Parkplätzen nistet und brütet es sich schlecht. Für die Amseln hat diese kuriose Geschichte somit ein Happy End. Ob das auch für das Sundance-Damenrad gilt? Noch steht es verlassen in der Fahrradabstellanlage. Ein Bändchen, das nach zwei Wochen zur Entfernung auffordern soll, flattert noch nicht an dem Zweirad. Stattdessen flattern die Amseln vorbei - einem Fahrradkorb und dem fleißigen Brutpaar sei Dank. (GEA)