TÜBINGEN. Es war ein großer Empfang, den Ludwig Griesinger, ehemaliger Kriminalkommissar der Tübinger Geheimen Staatspolizei (Gestapo), erhielt, als er am 18. Juni 1955 nach Tübingen zurückkehrte. Von einem geschmückten Wagen in Stuttgart abgeholt wurde Griesinger von Oberbürgermeister Hans Gmelin als Heimkehrer empfangen. Gmelin war selbst ein ehemaliger Angehöriger der SA und in der Slowakei an Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt, weshalb man ihm 2018 die Ehrenbürgerwürde aberkannte.
Empfang im Rathaus
Der Empfang Griesingers wurde am Stadtrand bei der Sophienpflege mit Kindern der Sophienpflege und später am Rathaus mit hundert Gästen inszeniert. Die Kritik der Württembergischen Allgemeinen Zeitung aus Stuttgart an der Ehrung des ehemaligen Gestapo-Angehörigen, der zuvor in der Tschechoslowakei wegen Folter und Mord zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, von denen er nur ein Drittel absaß, bevor er nach Deutschland entlassen wurde, bügelten Gmelin und der Gemeinderat ab. Der Gemeinderat verwies auf einen früheren Beschluss, dass »jeder Spätheimkehrer, ohne Rücksicht auf Person, öffentlich begrüsst werde auch auf die Gefahr hin, dass später etwa eine Verhandlung aus irgendwelchen Gründen bzw. eine Untersuchung gegen einen solchen Heimkehrer eingeleitet werde«.
Wer aber war Ludwig Griesinger? 1897 als Sohn eines Bierbrauers in Tübingen geboren, machte er zunächst eine Lehre als Pastetenbäcker, bevor er 1920 zur Tübinger Polizei ging. Zunächst bei der Tübinger Bereitschaftspolizei wechselte er 1924 zur Tübinger Schutzpolizei und trat 1933 der NSDAP bei. Ab Herbst 1933 war er beim Aufbau der Außenstelle der politischen Polizei in Tübingen tätig, ab 1936 war das die Außenstelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) untergebracht in der Münzgasse 13. Die Gestapo-Dienststelle in Tübingen überwachte die Bevölkerung in den heutigen Landkreisen Tübingen und Reutlingen. Aus der KZ-Haft entlassene politische Gegner mussten sich regelmäßig in der Münzgasse 13 melden. Ab 1934 erstellten die Gestapo-Beamten Listen aller Tübinger und Reutlinger Juden. »Zu jeder kulturellen oder caritativen Veranstaltung jüdischer Vereinigungen«, so erinnerte sich die aus Bronnweiler stammende Jüdin Hannah Bernheim rückblickend, »musste die Genehmigung der Gestapo eingeholt werden, die meistens zwei Beamte zur Überwachung entsandte.« Über Griesinger Tätigkeit in Tübingen gibt es nur vereinzelte Unterlagen. 1938 wurde er einem Einsatzkommando im annektierten Sudetenland zugeteilt und ab 1941 übernahm Griesinger die Leitung der Gestapo-Dienststelle im böhmischen Eger. Hier war er für die Verfolgung politischer Gegner zuständig. Bei Kriegsende setzte sich Griesinger aus der Tschechoslowakei ab, wurde jedoch 1946 von den Amerikanern in Bad Urach verhaftet und an die Tschechen ausgeliefert, die ihn von einem Volksgerichtshof in Cheb zu 25 Jahren Haft verurteilten.
In die Polizei übernommen
Da die Entnazifizierungs-Spruchkammern nicht mehr existierten, konnte Griesinger nach einer Kur zum 1. September 1955 im Kriminalvollzugsdienst der Kriminalpolizeistelle Tübingen arbeiten. Einzig seine Dienstzeit und seine Beförderungen aus der Gestapo-Zeit in Eger wurden nicht anerkannt. Nach einer Gesetzesnovelle gelang es ihm jedoch später, die Beförderungen und die Dienstzeit auf seine Pension anrechnen zu lassen. 1959 ging Griesinger altersbedingt in den Ruhestand. Er lebte noch drei Jahrzehnte in Tübingen, bevor er 1990 starb. In der Ausstellung »Gestapo vor Gericht« in der Gedenkstätte »Hotel Silber«, dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in Stuttgart, ist Ludwig Griesingers Biografie als ein Fallbeispiel dargestellt. (GEA)