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Aktuell Grundsteuer

500 Prozent mehr Steuern für Tübinger Österberghang

Die Steuerbescheide sind draußen. In Tübingen regt sich Widerstand. Für manche Eigentümer hat sich die Grundsteuer verfünffacht.

Grundsteuer 2025
Die Einnahmen aus der Grundsteuer sind in den vergangenen Jahren gestiegen. (Archivbild) Foto: Bernd Weißbrod/DPA
Die Einnahmen aus der Grundsteuer sind in den vergangenen Jahren gestiegen. (Archivbild)
Foto: Bernd Weißbrod/DPA

TÜBINGEN. 114 Treppenstufen müssen zu dem Haus an der Südseite des Tübinger Österbergs erklommen werden. Wer von oben kommt, muss 156 Stufen hinab steigen. Eine Zufahrt gibt es nicht, hat es noch nie gegeben und wird wohl auch nie gebaut werden. Denn die Flächen rund um das 830 Quadratmeter große Grundstück sind als Biotop ausgewiesen. Hier musste schon immer alles mühsam per Hand ins Haus transportiert werden. Das Klavier ebenso wie die Heizkörper und Zementsäcke. Jeder einzelne Einkauf geht über die Treppenstufen. Dafür wird man allerdings mit einem grandiosen Ausblick übers Neckartal belohnt.

Über diese steile Treppe werden zwei Häuser am Tübinger Österberg erschlossen. Eine Straße gibt es nicht. Steuerrechtlich bewert
Über diese steile Treppe werden zwei Häuser am Tübinger Österberg erschlossen. Eine Straße gibt es nicht. Steuerrechtlich bewertet werden die Grundstücke allerdings als Bauland. Foto: Irmgard Walderich
Über diese steile Treppe werden zwei Häuser am Tübinger Österberg erschlossen. Eine Straße gibt es nicht. Steuerrechtlich bewertet werden die Grundstücke allerdings als Bauland.
Foto: Irmgard Walderich

Es ist eine sehr besondere Wohnlage in Tübingen. Genehmigt wurde der Bau noch in der Weimarer Republik, im Jahr 1929. 1938 erlaubten die Nationalsozialisten dort den Bau von Wasserklosetts. Möglich, dass das Haus heute in dieser Form nicht mehr genehmigungsfähig wäre. Schließlich schreibt die baden-württembergische Landesbauverordnung vor, dass »Gebäude nur errichtet werden dürfen, wenn das Grundstück in angemessener Breite an einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche liegt oder eine befahrbare, öffentlich-rechtlich gesicherte Zufahrt zu einer befahrbaren öffentlichen Verkehrsfläche hat.«

»Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit scheint mir das wohl begründet«

Jetzt flatterte den Besitzern ein Grundsteuerbescheid ins Haus, der es in sich hat. Zahlten die Eigentümer zuvor 383 Euro, so sind es jetzt 1.985 Euro. Die Steuer hat sich also verfünffacht. Ein Anstieg um 514 Prozent. »Die größte Belastung müssen die Eigentümer von älteren Häusern mit großem Garten tragen. Die größte Entlastung erfahren die Mieter von neuen Etagenwohnungen in hoch verdichteten Gebieten«, so beschreibt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer die Auswirkungen der Steuerreform, ausgelöst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Aufgrund zahlreicher Einwände gegen die Steuerbescheide, von 191 in »zulässiger Form« spricht die Stadt, hatte sich der OB in einem offenen Brief an die Tübinger gewandt. Die Steuerlast werde nun viel gleichmäßiger verteilt. »Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit scheint mir das wohl begründet.«

Gerecht findet der Besitzer des Hauses am Österberg das allerdings nicht. Dabei hat er gegen eine andere Steuerverteilung gar nichts einzuwenden. Auch nicht gegen einen höheren Steuersatz. »Ich bin einverstanden, dass ich mehr zahle«, sagt er. Er hätte es allerdings gerechter gefunden, wenn eine Grenze bei 300 Prozent vom Gesetzgeber gezogen worden wäre. Was ihn aber am meisten stört, ist die Einstufung des gesamten Grundstücks, einschließlich des Gartens als Bauland. Der zugrunde gelegte Bodenrichtwert ist so hoch wie bei Anwohnern der Gartenstraße, deren Grundstücke direkt angefahren werden können. Die Lage des Grundstücks hatte für die Bewertung des Gutachterausschusses wohl keine Rolle gespielt.

»Ich bin einverstanden, dass ich mehr zahle«

Schon im Dezember 2023 hatte der Tübinger Einspruch gegen diese Bewertung beim Finanzamt und dem Gutachterausschuss eingelegt. In einem Schreiben im Januar erklärte die Stadt Tübingen, man habe die Anfrage erhalten und bitte um Geduld, weil sehr viele Einwände eingegangen seien. Der Mann hatte Geduld. Zehn Monate lang. Dann schrieb er erneut an die Stadt. Wieder wurde um Geduld gebeten. Dann kam der Steuerbescheid. Gegen diesen kann er nun binnen eines Monats Widerspruch einlegen.

Am steilen Österberghang gibt es einige Familien, die sich gegen die Grundsteuerbescheide wehren. Nicht ohne Grund hatte Palmer den Vorwurf, nicht bebaubare Gartengrundstücke als Bauland zu bewerten, in seinem offenen Brief aufgegriffen. Der Bodenrichtwert spiegele lediglich die Preise, die in den letzten Jahren für solche Grundstücke gezahlt wurden, schreibt der OB. »Es ist eben so, dass ein Grundstück mit tausend Quadratmeter Garten in Tübingen als besonders wertvolle Perle gehandelt und zu den höchsten Bodenpreisen verkauft wird.« Weil der Wert der Grundstücke tatsächlich so hoch sei, müsse er auch in der Steuer entsprechend berücksichtigt werden.

Aber ist der Wert eines Grundstücks, das nur über eine enge Treppe erschlossen ist, wirklich vergleichbar mit dem eines Grundstücks an einer Straße? Der Mann am Österberg bezweifelt das. Ihm gehe es nicht in erster Linie im Geld, sondern um Gerechtigkeit. Allerdings könne eine junge Familie, die sich dort ein Haus gekauft und über Kredite finanziert habe, durchaus in finanzielle Nöte aufgrund der neuen Grundsteuer kommen. Zumal die eigentliche Erhöhung den Tübingern womöglich noch bevorsteht. Die derzeitigen Grundsteuerbescheide setzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 um. Mit der Reform werde aber keine Veränderung des Grundsteueraufkommens verfolgt, schreibt das Bundesfinanzministerium: »Die Reform solle für die jeweilige Stadt oder Gemeinde zu keinen Einnahmeverlusten führen; die Städte und Gemeinden sollen aber durch die Reform auch nicht mehr Grundsteuer einnehmen als zuvor.«

Das ist auch in Tübingen so. Insgesamt bleibt das Steueraufkommen für die Stadt gleich. Allerdings kommt es »zu erheblichen Umverteilungen«, schreibt Palmer. Dabei unterstützt der OB die Reform voll und ganz, weil der Anreiz, viel sparsamer als bisher mit Grund und Boden umzugehen, groß sei.

Sehr wahrscheinlich wird es aber nicht bei den Umverteilungen bleiben. In Anbetracht der derzeitigen Haushaltslage stehe der Gemeinderat vor der Entscheidung, »Steuererhöhungen oder weitere Leistungskürzungen zu beschließen«. Palmer sagt deutlich, wofür er plädiert: »Weil von Ausgabenkürzungen der Stadt in erster Linie Menschen mit Unterstützungsbedarfen aller Art und kleineren Einkommen betroffen sind, halte ich es für gerecht, dass auch Einnahmeverbesserungen genutzt werden, um das Haushaltsloch zu schließen.« Der Oberbürgermeister will also die Hebesätze erhöhen. Auf die Bewohner am Österberg kämen damit noch weitere Ausgaben hinzu. (GEA)