TÜBINGEN. »Mein Vater ist kurz nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings durch Leonid Breschnew an Krim gefahren und ist mit Breschnew im Schwarzen Meer geschwommen«, erzählt Peter Brandt. Peter Willy Brandt ist 75-jähriger Professor für Neuere Geschichte im Ruhestand und Sohn von Willy Brandt, SPD-Bundeskanzler von 1969-1974. Willy Brandt sei als damaliger Bundeskanzler nicht zu Breschnew gefahren, weil er dessen Politik guthieß, sondern weil es galt, im Gespräch zu bleiben, um einen Atomkrieg zu verhindern.
Keine Vereinnahmung des Vaters
Brandt sagte, dass er seinen Vater nicht vereinnahmen wolle. Man wisse nicht, was ein Toter zur heutigen Situation denken würde, sagte er auf die Äußerung des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil hin, dass Willy Brandt Waffen an die Ukraine liefern würde.
Heute sei die Welt wieder in einer ähnlichen Situation wie damals. Der Ukrainekrieg sei in einem blutigen Stellungskrieg »ähnlich der Situation an der deutschen Westfront in ersten Weltkrieg« festgefahren. Täglich würden Hunderte Soldaten sterben. Die Ukraine könne diesen Krieg nicht ohne aktives Mitwirken der Nato-Staaten gewinnen. In den amerikanischen Medien und bei den amerikanischen Generälen werde diese Thema auch offen diskutiert, in Deutschland aber nicht. »Das Hauptproblem der Ukraine sind nicht die Waffen, sondern das militärische Personal«, sagt Brandt. Mittlerweile würden bereits Männer zwischen 40 und 50 Jahren eingezogen, weil die anderen bereits gefallen seien.
Ukraine gehen die Männer aus
Man müsse jetzt verhandeln und ausloten zu welchen Bedingungen ein Frieden möglich sei. Denn klar sei auch, dass Russland mehr Einwohner und deshalb auch mehr potenzielle Soldaten habe als die Ukraine, weshalb sich die Verhandlungsposition der Ukraine eher verschlechtere. Die Situationseinschätzung sei bei Regierungsvertretern nicht so unterschiedlich, aber man erwidere ihm immer wieder, das die Zeit noch nicht reif sei für Verhandlungen. »Ich sage der Ukraine nicht, dass sie kapitulieren soll, sondern dass sie sich um eine Lösung bemühen soll«.
Brandt ging auf die beiden Hauptargumente gegen Verhandlungen ein. Das eine sei, das Russland einen Waffenstillstand für die Vorbereitung einer neuen militärischen Offensive nutzen würde. Das sei zwar nicht von der Hand zu weisen, gelte jedoch für beide Seiten. Das andere sei, das Putin nicht nachgeben könne, weil er sonst gestürzt oder umgebracht würde. »Was in Verhandlungen möglich ist, weiß man erst, wenn man ernsthaft verhandelt«, sagte er dazu. Dass Putin »imperiale Ambitionen« habe, sei durch seine Reden nachweisbar. Wie sehr er auf der Umsetzung dieser imperialen Träume beharre, wisse man erst, wenn ohne Vorbedingungen miteinander rede.
China und USA könnten Frieden erzwingen
Klar sei, das China einerseits ein geschwächtes Russland als niederrangigen Bündnispartner an sich binden wolle und andererseits kein Interesse an einer Fortdauer des Krieges habe. »China und die USA gemeinsam könnten einen Frieden erzwingen«, meint Brandt. Deshalb setze er auf die Gespräche zwischen Xi und Biden.
Der Friedensplan, den Brandt gemeinsam mit dem ehemaligen Nato-General Harald Kujat und dem ehemaligen Helmut-Kohl-Berater Horst Teltschik erarbeitet hat, sieht zunächst einen Waffenstillstand vor. Anschließend könne man in den von Russland besetzten Gebieten der Ostukraine und der Krim unter Aufsicht der UNO darüber abstimmen lassen, ob sie zu Russland gehören oder in einem weitgehenden Autonomiestatus zur Ukraine gehören wollen. Klar sei: »Die gesamte Ukraine in den Vorkriegsgrenzen als Nato-Mitglied wird es nur bei einem Siegfrieden geben«. Deshalb plädiert der Friedensplan für eine bewaffnete Ukraine außerhalb der Nato. Die Ukraine solle jedoch Garantiemächte benennen und die Perspektive für einen EU-Beitritt erhalten, so Brandt.
Generationenkonflikt in der SPD
Bei der anschließenden Diskussion wurde klar, dass die Frage, ob man die Ukraine weiterhin uneingeschränkt unterstützen, oder mit Russland verhandeln soll, ein Generationenkonflikt in der SPD ist. »Diejenigen, die gegen die jetzige Regierungslinie sind, sind die Älteren, die von der Kriegserfahrung und dem Kalten Krieg geprägt sind«, sagte Brandt. Er wisse auch von Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen und Peer Steinbrück, dass sie die jetzige Regierungslinie eher kritisch sehen. Fast alle Zuhörer im Hirsch gehörten der Generation der über 60-Jährigen an. Aktuelle Abgeordnete oder Jusos waren nicht gekommen, dafür mit Marlene Rupprecht (SPD-Bundestagsabgeordnete von 1996-2013), Rita Haller-Haid (SPD-Landtagsabgeordnete von 2001-2016) und Heike Hänsel (Linken-Bundestagsabgeordnete 2005-2021) drei ehemalige Mandatsträgerinnen.
Zu Wort meldeten sich auch der Reutlinger Ulrich Bausch, der Putin als Verantwortlichen des Ukrainekriegs brandmarkte, aber dennoch zu Verhandlungen aufrief. Der Tübinger Rechtsanwalt und Friedenspreisträger Holger Rothbauer sagte, dass die Ausbildung von Ukrainern durch Nato-Kräfte in Lemberg von manchen Völkerrechtlern bereits als Kriegsbeteiligung gesehen werde und nach dieser Rechtsauslegung einen Angriff Russlands auf die US-Militärbasis Ramstein rechtfertigen würde. Gerd Unger, Scheidungsanwalt, bemängelte, dass man mit der derzeitigen Haltung der Bundesregierung mit einer Maximalforderung in keine Gerichtsverhandlung gehen könne: »Ich habe mein Leben lang Verhandlungen geführt, mit Leuten, die nichts mehr voneinander wissen wollten«. Man müsse eben den Punkt finden, der für das Gegenüber gerade noch akzeptabel sei. »Das Problem ist, dass man diesen Punkt nicht gleich zu Beginn der Verhandlung erfährt«, erwiderte Peter Brandt. (GEA)