TÜBINGEN. Mit Fassung saß der 33-Jährige auf der Anklagebank, wie schon während der vorausgegangenen Prozesstage auch. Dabei hätten Beobachter sicher Freude im Gesicht des Gambiers erwartet, als der vorsitzende Richter Michael Allmendinger das abgemilderte Urteil im Berufungsprozess um Beleidigung, Bedrohung und zwei verletzte Polizisten verlas: zwei Jahre auf Bewährung, dazu 150 Sozialstunden und ein Gewaltsensibilisierungs-Training. Damit ist die Kammer grob der Forderung von Staatsanwalt Patrick Pomreinke nachgekommen, der ebenfalls zwei Jahre auf Bewährung gefordert hatte. Das Amtsgericht Tübingen hatte den Angeklagten in erster Instanz zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt - ohne Bewährung.
Mit Fahrradschloss und ganz viel Wut
Was den Angeklagten im September vergangenen Jahres in eine derart »unstillbare Rage« versetzt hatte, wie es Staatsanwalt Pomreinke in seinem Abschlussplädoyer formulierte, liegt nach wie vor im Dunkeln. Was das Gericht hingegen als gesichert ansieht: Die Provokation ging nicht von den drei Bahnmitarbeitern aus, die sich auf ihrem Betriebsparkplatz nahe dem Tübinger Hauptbahnhof unterhalten hatten. Dort hatte ihnen der 33-Jährige - unvermittelt und bereits am Wüten - mit einem Fahrradschloss gedroht, sie umzubringen und dazu mehrfach unflätig beleidigt. Als die hinzugezogene Polizei die Situation entschärfen wollte, hatte der Angeklagte keinen Willen zur Besänftigung gezeigt und hatte - halbseitig eingekreist von den Beamten - mit weiteren Drohgebärden die Gleise betreten. Beim darauffolgenden Zugriff stürzte ein Bundespolizist so schwer, dass er lebensgefährlich verletzt wurde, ein anderer wurde vom Angeklagten in den Arm gebissen.
Beim Abschlussplädoyer verteidigten die Anwältinnen Lena Pfaff und Jale Deile den 33-jährigen Gambier als Menschen, »der schreckliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat.« Er sei in Libyen bei seiner Flucht nach Deutschland willkürlich eingesperrt, misshandelt und schließlich nach Wochen erst gegen eine hohe Geldsumme wieder freigelassen worden. Seitdem plage den Angeklagten die Angst vor der Polizei: Die Präsenz der acht Beamten auf dem Parkplatz habe ihn in Panik ausbrechen lassen, Todesangst habe er gelitten.
»Vehement uneinsichtig« und »inadäquat aggressiv«
In seiner Urteilsbegründung nahm Richter Allmendinger diese Erfahrungen zwar ernst, setzte aber das Verhalten des Angeklagten in den Kontext der Situation: Er habe sich »vehement uneinsichtig«, »inadäquat aggressiv« und auch in seinem Verhalten »nicht erklärbar« verhalten. Von niemandem außer ihm selbst ging zu diesem Zeitpunkt eine Gefahr aus. Zudem lebe der Mann bereits seit 2014 in Deutschland und kenne dementsprechend die Gepflogenheiten und das Verhalten der deutschen Polizei.
Dieser bescheinigte der Richter einen fehlerfreien Einsatz: Erst, als die deeskalierenden Maßnahmen der Beamten keine Wirkung zeigten und der Angeklagte auf die durch den Zugverkehr bedrohten Gleise gegangen sei, hätten sie ihn aufgrund der gefährlichen Situation überwältigt. Auch deckten sich die Zeugenaussagen der Polizisten und Bahnmitarbeiter einwandfrei mit den Darstellungen, die per Video bei der Beweisführung gezeigt wurden.
Verantwortungsgefühl ist ausschlaggebend
Den polizeilichen Maßnahmen habe sich der Angeklagte widersetzt und dabei »billigend in Kauf genommen«, dass Personen zu Schaden kommen. Den Polizisten, der beim Gerangel mit dem Rücken auf die Gleise fiel und sich dabei lebensgefährlich verletzte, umklammerte der 33-Jährige vor seinem Sturz mit beiden Armen, wollte ihn aber nach Ansicht des Gerichts nicht absichtlich lebensgefährlich verletzen. Auch konnte sich Allmendinger nicht erklären, warum der Angeklagte einen weiteren Polizisten beim Einsatz in den Arm biss, obwohl er vor Gericht mehrfach beteuerte, dass er niemandem hätte schaden wollen. Der vorsätzlichen Körperverletzung sei er daher in beiden Fällen schuldig - denn ohne seinen ungerechtfertigten Widerstand wäre es nicht dazu gekommen. Auch die Beleidigungen und Drohungen, die der Gambier gegen die Bahnmitarbeiter ausgesprochen habe, seien bewusst gewählt: Schließlich seien sie auf Deutsch gefallen. Er habe sich ganz eindeutig strafbar gemacht.
Trotz allem: Dem 33-Jährigen kam zugute, dass er bislang nicht vorbestraft war und sich bei den geschädigten Polizisten entschuldigt hatte. Mehr noch: Die Schmerzensgeldansprüche der Beamten habe der Angeklagte bereits gezahlt - über 8.000 Euro, die der mit mehreren Zehntausend Euro verschuldete Mann über ein Privatdarlehen organisiert hatte. Grundsätzlich sei eine »Integrationsleistung« erkennbar, vor allem am Arbeitsmarkt, wo sich der 33-Jährige trotz Kündigungen immer wieder um Anstellungen bemüht habe. »Sie nehmen Verantwortung wahr«, begründete Richter Allmendinger seine Ausführungen an den Angeklagten gewandt. »Sie haben eine zweite Chance erhalten. Nutzen Sie sie.«
Gegen das Urteil könnte noch binnen einer Woche Revision eingelegt werden. Es ist daher noch nicht rechtskräftig.