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Wie Georg Dürr, Ex-Schulleiter in Rottenburg und Palästina, den Gaza-Konflikt sieht

Georg Dürr war Schulleiter am Eugen-Bolz-Gymnasium Rottenburg, in Bait Dschala und Pretoria. In der GEA-Redaktion erklärte der gebürtige Nehrener seine Sicht auf den Nahost-Konflikt.

Georg Dürr, Schulleiter im Ruhestand, erklärt seine Sicht auf den Nahen Osten.
Georg Dürr, Schulleiter im Ruhestand, erklärt seine Sicht auf den Nahen Osten. Foto: Frank Pieth
Georg Dürr, Schulleiter im Ruhestand, erklärt seine Sicht auf den Nahen Osten.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. »Ich finde, dass Netanjahu den Begriff Antisemitismus missbraucht«, sagt Georg Dürr auf die Frage, ob die Kritik am Vorgehen im Gaza-Krieg antisemitisch ist. Der heute 79-jährige wechselte 2004 als Schulleiter des Rottenburger Eugen-Bolz-Gymnasiums nach Bait Dschala ins Westjordanland, um dort bis 2010 die renommierte Talitha-Kumi-Schule zu leiten. Die Entwicklung in Palästina beschäftigt den Pädagogen, der in Nehren aufwuchs und zuvor auch schon in Namibia und Südafrika Schulen leitete, bis heute. »Ich telefoniere einmal in der Woche mit Freunden im Westjordanland und in Israel«, erzählt er bei einem Besuch in der GEA-Redaktion. Dürr hält auch Vorträge über den Nahost-Konflikt. »Als ich in Südafrika war, hat man gesagt, dass der Terrorist Nelson Mandela nie Präsident werden kann. Seither überlege ich, wer der Mandela für die Palästinenser sein könnte«, erzählt Dürr. Die Politologin Muriel Asseburg habe den in Israel im Gefängnis sitzenden Fatah-Führer Marwan Barghuti für die Rolle des palästinensischen Mandela vorgeschlagen. Mit der derzeitigen israelischen Regierung sei eine Mandela-Lösung jedoch nicht in Sicht. »Was aus dem Westjordanland hören, ist nicht ermutigend. Da ist die Gewalt von Siedlern und das Aufreißen von Straßen durch die Israelis um die Palästinenser in ihrer Mobilität einzuschränken«, berichtet Dürr.

»Es war ein Fehler, nicht mit gemäßigten Hamas-Leuten zu reden«

Netanjahu wolle die Palästinenser aus dem Gaze-Streifen vertreiben und ihn wieder israelisch besiedeln lassen. »Als die Israelis die Siedler aus Gaza abgezogen haben da haben die Radikalen immer gesagt, dass sie zurückkommen würden«, erinnert sich Dürr. Der Überfall der Hamas habe Netanjahu und seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern dazu den willkommenen Vorwand geliefert. Netanjahu habe Soldaten von der Grenze zum Gazastreifen abgezogen, um Siedler im Westjordanland zu schützen, obwohl der Mossad vor einer Aktion der Hamas gewarnt habe. »Es hieß, der Mossad wisse über jede Fliege im Gaza-Streifen Bescheid«, erzählt Dürr. Deshalb trage Netanjahu eine Mitverantwortung an dem, was beim Hamas-Überfall passiert sei. Es gehe dem Ministerpräsidenten auch nicht um das Schicksal der Geiseln. Netanjahu wisse, dass er ins Gefängnis müsse, wenn der Krieg ende. Deshalb habe er kein Interesse an einem Frieden.

Auf palästinensischer Seite hätten viele die Hamas gewählt, weil sie von der Fatah enttäuscht waren, weil es nach dem Oslo-Abkommen keinen Fortschritt gegeben habe. Wer mit den Israelis ins Gespräch kommen wolle, der werde schnell als »Normalisierer« verunglimpft. »Normalisierern« werde vorgeworfen, die Besatzung und das Verhältnis zu Israel zu normalisieren. So könne es etwa Anwälten, die Palästinenser vor israelischen Gerichten vertreten, passieren, dass ihnen vor palästinensischen Gerichten die Zulassung entzogen wird.

Es war ein Fehler der Europäer, nicht mit gemäßigten Hamas-Leuten zu reden, kritisiert Dürr. Obwohl er von seinen Vorgesetzten die Anweisung hatte, nicht mit Hamas-Leuten zu sprechen, habe er sich als Schulleiter von Talitha Kumi mit dem damaligen designierten Bildungsminister der Hamas unterhalten. »Der Einstieg war schwierig, weil er mich gefragt hat, ob ich das wirklich glaube mit den sechs Millionen Im Holocaust ermordeten Juden.«, erinnert sich Dürr. Er habe geantwortet, dass auch nur ein einziger Mensch, der wegen seines Glaubens ermordet werde, einer zu viel sei. Anschließend habe man sich über Bildungspolitik ausgetauscht und er habe die Zusage erhalten, weiterhin Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichten zu dürfen.

Georg Dürr berichtet vom Misstrauen, das er von palästinensischen Kollegen gespürt habe, weil er seinen behinderten Sohn auf der anderen Seite der Mauer in Israel eingeschult habe. Auf der anderen Seite sei seiner Frau von anderen israelischen Eltern und Lehrern seines Sohnes Misstrauen entgegengeschlagen, weil sie mit ihrem Sohn Deutsch gesprochen und auf der palästinensischen Seite der Mauer gewohnt hätten.

Er habe mit seiner Familie in einer Dienstwohnung auf dem Schulgelände gewohnt, erzählt Dürr. Da es im Westjordanland nur zeitweise fließendes Wasser gab, habe die Schule ein großes Wasserreservoir, aus dem manchmal auch Teile des Dorfes mitversorgt wurden. Auch der Strom sei immer wieder ausgefallen.

Als Schulleiter habe er versucht, Bildung dem Hass entgegenzusetzen. So habe er in Talitha Kumi in Zusammenarbeit mit dem israelischen Dirigenten Daniel Barenboim auf Musikunterricht als Friedensprojekt gesetzt. Vier israelische Musiklehrer hätten dazu kostenlos palästinensische Kinder unterrichtet. »Wer Geige spielt, wirft keine Steine«, sei einer der Leitsätze gewesen. Außerdem entstehe in einem Orchester nur dann Musik, wenn man aufeinander höre, sagt Dürr. Auf den Nahost-Konflikt übertragen, bedeute dies: »Man muss das Leid des anderen Volkes akzeptieren und redefähig bleiben«, so Dürr.

»Man muss das Leid des anderen akzeptieren und redefähig bleiben«

Um zu verdeutlichen, was er meint, hat der Pädagoge zum Redaktionsbesuch ein Geschichtsbuch mitgebracht, das israelische und palästinensische Historiker gemeinsam erstellt haben. Weil sie sich nicht auch eine gemeinsame Geschichtsschreibung einigen konnten, steht auf dem linken Drittel jeder Seite das israelische Narrativ und auf dem rechten Drittel der Seite das palästinensische Narrativ. In der Mitte jeder Seite ist Platz für die Schüler, sich aus beiden Versionen eine eigene Meinung zu bilden. »Dieses Geschichtsbuch darf weder in israelischen, noch in palästinensischen Schulen benutzt werden. Vielleicht könnte es wenigstens in deutschen Schulen verwendet werden«, erzählt Dürr.

In Talitha Kumi, wo etwa 1.000 Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse unterrichtet werden, habe er als Schulleiter eingeführt, dass die Absolventen das deutsche internationale Abitur zusätzlich zum palästinensischen Abschluss erwerben können. »Das habe ich getan, damit die Absolventen im Ausland studieren können«, erzählt Dürr. Auch habe er darauf geachtet, dass die Privatschule Sozialstipendien vergab. Für Palästinenser sei Bildung ein Weg aus der Armut. »Es gibt an arabischen Universitäten überdurchschnittlich viele palästinensische Professoren.« (GEA)