NEHREN. Mitten im Amazonas. Dorfbewohner zerkleinern Huaca Blätter. Mit diesen wollen sie in einer Bucht auf Fischfang gehen. In kleinen Säckchen bringen sie das natürliche Betäubungsmittel ein. Die Fische treiben nach oben und können mit Macheten aufgespießt werden. Seit mehr als 20 Jahren erkundet die Nehrenerin Regisseurin Maja Tillmann in ihren Filmen entlegene Welten. Die Filmemacherin arbeitet weltweit für verschiedene Universitäten und NGOs. Sie hat Video-Workshops in verschiedenen Projekten in China, Peru, Ecuador, Bolivien, Panama, Mexiko sowie Deutschland und Ruanda geleitet. Ihre Arbeit wurde unter anderem in Washington im National Museum of the American Indian ausgestellt.
Tillmann hat ihre frühe Kindheit in einem peruanischen Quechua-Dorf verbracht. Nach Deutschland kam sie im Alter von zehn Jahren und wuchs bei Stockach auf. Zwischendurch lebte sie viele Jahre in Peru. Seit vier Jahren wohnt sie mit ihrer Familie in Nehren. »Ich möchte indigenes Wissen vermitteln, das tausende Jahre alt ist. In vielen abgelegenen Dörfern herrscht die mündliche Kultur vor. Wir halten diese zum ersten Mal auf Video fest. Die Welt soll davon erfahren«, sagt sie. In San Francisco hat die 49-Jährige ein Film-Studium absolviert, dazu gehörten auch Seminare zur visuellen Ethnologie.

Was fasziniert Tillmann so am Film? »Mich hat schon immer fasziniert, andere Realitäten kreieren zu können.« Eine besondere Art des Dokumentarfilms ist zu ihrem Beruf geworden. Ihre Videoprojekte sind partizipativ und demokratisch. Das heißt: Jeder, der am Film beteiligt ist, bringt sich ein. Jeder filmt und wird auch gefilmt.
Tillmann schult zunächst die angehenden Filmemacher. Diese wurden früher mit kleinen Kameras, heutzutage mit Tablets ausgestattet, dann dürfen sie selber loslegen. Nach ein paar Monaten schaut Tillmann wieder vorbei und begutachtet, was an Material zusammengekommen ist. Häufig arbeitet Tillmann auch mit ihrem Mann Rodrigo Otero Heraud, Fotograf und Filmemacher, zusammen. »Der Inhalt geht vor. Typische Filmregeln, wie die 180 Grad Regel, bei der bei der Aufnahme eines Dialogs, nicht plötzlich die Richtung gewechselt wird, sind nicht so wichtig«, sagt Tillmann. Das partizipative Filmemachen bedeute eine ständige Reflexion. Auch beim Schnitt nimmt Tillmann Mitglieder der Dorfbevölkerung mit ins Boot. Sie dürfen entscheiden, was sie der Welt zeigen möchten. »Manche haben sich zum ersten Mal selber in bewegten Bildern gesehen.«
»Ich bin keine, die von oben herab bestimmt«, sagt sie. »Jeder Mensch trägt in sich einen Schatz und kann ihn in den Filmen zeigen. Ich bin schon oft überrascht worden. Manche wirken schüchtern, sehen aber zum Beispiel beim Filmen Dinge, die anderen nie auffallen würden«, sagt die Nehrenerin. Ein Dialog der Kulturen entsteht ganz von alleine. »Ganz wichtig ist, es muss Spaß machen. Mich reizt auch die Themenvielfalt. Man weiß nie, was passiert.« Die 49-Jährige möchte vor allem den Reichtum der Kulturen zeigen. Zum Beispiel wie viele unterschiedliche Sorten Kartoffeln auf einem Feld angebaut werden. »Eine Bäuerin hat uns ihre Lieblingspflanze gezeigt. Da wäre ich nie darauf gekommen«, sagt Tillmann.
Stunden an Material kommen dabei zusammen: Einblicke in das Alltagsleben, in Feste, in religiöse Riten. »Ich schöpfe aus den Besuchen Energie und fühle mich mehr mit dem Ursprung des Lebens verbunden«, sagt die Nehrenerin. »Ich wünsche mir, dass auch bei uns der Wert der Natur wieder mehr entdeckt wird.« Angst habe sie auch an den abgelegensten Orten nicht gespürt. Die Menschen wüssten schließlich, wie man dort mit der Situation umgehen kann.
In den indigenen Kulturen habe alles eine Bedeutung. »Ein Fluss zählt zum Beispiel wie eine Person«, erklärt Tillmann. Ein Video zeigt, wie Menschen Orangen von einem Berg in den Anden werfen. »Damit scheuchen sie den Hagel weg«, sagt sie. Für die Bewohner ist der Berg heilig. Das Video habe dazu beigetragen, dass dieses Bewusstsein weitergetragen worden sei und der Berg nicht als Mine genutzt wird. Mittlerweile wurde das Gebiet zum Naturschutzgebiet erklärt. Mit ihrer Arbeit kann Tillmann etwas bewegen. Junge Filmemacher der Kuna, einer indigenen Ethnie, hätten durch ihre Filme ihrem Parlament zeigen können, was für ein großes Müllproblem es im Dschungel in Panama gibt. Denn natürlich bleibt auch dort die Zeit nicht stehen. Tillmann hat mit den Jahren beobachtet, wie sich viele indigene Dörfer verändert haben. Viele seien mittlerweile ans Straßenverkehrsnetz angeschlossen. Handys seien vielerorts eine Selbstverständlichkeit. Das erleichtere aber auch den Kontakt. Viele Jahre nachdem ihre Projekte längst abgeschlossen sind, ist Tillmann immer noch mit den Menschen im Austausch. (GEA)