TÜBINGEN. Als die erste Staatsanwältin Michaela Nörr die Anklageschrift wegen 200-fachen, gewerbsmäßigen Betrugs verlas, konnte man rundum in staunende Gesichter blicken. Wie ist es möglich, dass der Angeklagte, ein ergrauter Mittvierzieger, randlose Brille, gepflegtes Erscheinungsbild, ein Mössinger Rentnerpaar so in den Griff kriegen konnte, dass die beiden ihm über mehrere Jahre, teilweise täglich, mehrere hundert Euro gaben? Am Ende summiert sich die Summe auf fast 80.000 Euro. Die Eheleute, die der Mann nach einem Gottesdienst ansprach, verdienen sich selbst als Zeitungsausträger ein Zubrot und mussten gar selbst Schulden machen, um den Angeklagten bezahlen zu können.
Der geständige Angeklagte sagt selbst: »Ich konnte Menschen in großem Stil beeinflussen, wie Schachfiguren.« Er berichtet seinen Opfern von seiner trinkenden Mutter, dem gewalttätigen Vater, einer kostspieligen Führerscheinausbildung oder andere Lügengeschichten, alle frei erfunden. Und er überrumpelt seine Opfer. »Er stand schon um 5.30 Uhr morgens wie aus dem Nichts bei uns vor der Tür, nachdem wir vom Zeitungaustragen nach Hause kamen und fertig waren«, berichten die Eheleute in einer Prozesspause. Weil der Angeklagte geständig war, mussten sie nicht vor Gericht aussagen. Irgendwann glaubten sie ihm die Lügen nicht mehr, gaben ihm aber dennoch Geld. »Wir wollten früher aufhören, er hat uns aber immer wieder um den Finger gewickelt«, sagt die Ehefrau, die anonym bleiben möchte. Ein anderes Opfer zitiert Richter Benjamin Kehrer, als er aus einer der insgesamt 18 Vorstrafen des Angeklagten vorlas: Er habe dem Angeklagten irgendwann nur noch Geld gegeben, damit dieser »friedlich gestimmt« bleibe - in der vagen Hoffnung, doch noch irgendwann die geliehen Summe zurückzuerhalten.
Mittellos und hoch verschuldet
Ein weiteres Opfer hatte der damals unter Bewährung stehende Angeklagte bei der Belsener Kapelle Im Jahr 2023 abgefasst. Und auch in diesem Fall gelang es dem 44-Jährigen, der keinen Beruf gelernt hat und zumeist von Sozialhilfe und Betrügereien lebte, über einen längeren Zeitraum immer wieder Geldbeträge zu erhalten. Am Ende waren es insgesamt 36.000 Euro. Immerhin: von den letzten 1.000 Euro dürfte der Geschädigte 900 Euro zurückerhalten - diesen Betrag hatte der Angeklagte noch bei sich, als er kurz nach der Geldübergabe von der Polizei festgenommen wurde. Über weitere 110.000 Euro erteilte das Schöffengericht zwar einen Einziehungsbeschluss, doch dürfte bei dem mittellosen Mann nichts zu holen sein. Nach eigenen Angaben hat er zudem 135.000 Euro Schulden.
Denn der 44-Jährige, der vom Schöffengericht zu drei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde, hat das ganze Geld in Sportwetten verspielt. Seit 1999 ist er nach eigenen Angaben spielsüchtig. Eine abgeschlossene Therapie erteilte ihm 2021 zwar eine gute Prognose, doch wurde der in Dresden geborene Mann bald wieder rückfällig. Als er vor dem Landgericht 2023 erneut zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, habe das seine Spielsucht nur noch mehr getriggert, berichtete der Angeklagte offen: »Da hab ich dann gedacht, ich könnte das alles deichseln.« Pro Monat will er damals 10.000 Euro in verschiedenen Reutlinger Wettbüros im Umfeld des Hauptbahnhofs verzockt haben. »Auch die Gewinne habe ich da gleich verspielt«, berichtet der Mann, der es als Fußballer einstmals bis in die Verbandsliga geschafft haben will.
Kritik an den Wettbüros
Und auch wenn der Angeklagte immer wieder betonte, die alleinige Verantwortung zu tragen - sein Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Matthias Hunzinger, hatte bereits während der Verhandlung erwähnt, dass sein Mandant jedes Urteil akzeptieren werde - wollte Richter Kehrer die Wettbüros nicht aus der Verantwortung lassen. »Die wahren und einzigen Profiteure sind die Spielhallen«, sagte Kehrer und kündigte an, deren gewerberechtliche Überprüfung zu veranlassen. »Schließlich sind sie gesetzlich verpflichtet, Spielsüchtige anzusprechen und sie nicht mehr Spielen zu lassen.« Dennoch sei auch der Gesetzgeber gefragt, strengere Regeln zu erlassen: »Dass Wettbüros oft genug mit Geld aus Delikten bedient werden, ist eine empirische Tatsache.«
Die Opfer treffe dagegen keine Schuld, auch wenn ihnen Richter Kehrer nicht nur »Gutgläubigkeit, sondern auch Leichtgläubigkeit« attestierte. Gezielt sei der Angeklagte immer wieder im kirchlichen Umfeld unterwegs gewesen, etwa auch bei der Christlichen Gemeinschaft in Reutlingen oder der neuapostolischen Kirche in Gönningen. Dort habe der Angeklagte ihm völlig fremde Menschen angesprochen und »gezielt die christliche Nächstenliebe missbraucht«. Das Urteil wurde noch im Gerichtssaal rechtskräftig, da sowohl Staatsanwältin Nörr als auch der Angeklagte auf Rechtsmittel verzichteten. Der 44-Jährige, der aktuell bereits eine widerrufene Bewährungsstrafe absitzt, bleibt also noch mindestens zwei Jahre in Haft, ehe ihm eine Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden könnte, um ihm eine Therapie zu ermöglichen. Ob diese helfen wird? »Mein Mandant hat einen Wendepunkt in seinem Leben erreicht«, hat zumindest Rechtsanwalt Hunzinger noch Hoffnung auf Besserung. »Ich kann ihm nichts mehr glauben«, urteilte dagegen die Mössinger Geschädigte. Und der Angeklagte selbst erklärte: »Ich habe viel gelogen in meinem Leben.« (GEA)
