GOMARINGEN. In der Ruhe liegt die Kraft - Pardon, die Kreativität. »Stress können wir hier nicht leiden, den brauchen wir nicht«, sagt Claudia Simon zu ihrer Klientin Birgit, die breit lächelnd zustimmt. Zeit und Sorgfalt haben sie für ihr Werk walten lassen. Seit März arbeiten 23 Künstler an dem Exponat »Flügel«, das mit viel Liebe, Spaß und einer gesunden Prise Perfektionismus kreiert wurde. Wer das Maßband bei der Vernissage im Oktober zücken würde, würde dreieinhalb Meter Länge messen - Spannweite, wie es bei Flügeln ja eigentlich heißen muss. Zwei Stück sind es, und sie bestehen aus rund 800 selbstgebastelten und -bemalten Federn. Knapp drei Wochen vor dem großen Tag präsentieren die Donnerstag-Nachmittags-Gruppe und Simon zusammen die rechte Hälfte des Schwingen-Paars. Für den fertig gestalteten linken Flügel war in der kleinen, gemütlichen Werkstatt kein Platz mehr.
Simon betreut die Kunstgruppen, die sich im Gomaringer Hauptsitz des Vereins Freundeskreis Mensch zum kreativen Schaffen zusammenfinden. Die Angebote sind für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen konzipiert. Im ganzen Landkreis bietet der Verein den Menschen Möglichkeiten an, sie mit speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Angeboten in den Arbeitsalltag zu integrieren und sie nach allen Regeln der Kunst zu unterstützen. Dazu gehören auch arbeitsbegleitende Maßnahmen, wie etwa die Teilnahme an einer kreativen Gruppe.
Insgesamt vier Kurse mit bis zu sechs Klienten betreut Simon beim Freundeskreis Mensch. Die gelernte Erzieherin und »autodidaktische Künstlerin«, wie sie selbst über sich sagt, kam über einen Acryl-Malkurs zum Freundeskreis. »Da habe ich den älteren Klienten gezeigt, wie's geht und wie man die Farben nutzt«, erklärt Simon. Seit nunmehr 13 Jahren malt, bastelt und erweckt sie die noch schlummernden Potenziale ihrer Schützlinge.
So wie bei Daniela, die mit Kunst zuerst gar nicht so viel anfangen konnte. »Sie hat ihr Talent hier entdeckt, malt sehr genau«, erzählt die Betreuerin und erntet ein zustimmendes Nicken. Da Danielas feine Technik bei den großen Federn für sie sehr anstrengend war, hat Simon kurzerhand eine kreative Lösung gefunden: »Daniela hat eine kleine Feder bemalt, die wir dann eingescannt und vergrößert haben.« Wie viele Elemente jeder Künstler zu den Schwingen beigesteuert hat, könne sie nicht sagen. »Ich zwinge niemanden, bei dem Projekt mitzuarbeiten. Hier ist jeder frei bei seinem künstlerischen Schaffen.« Wer sich mal nicht so nach Federgestaltung fühle und lieber etwas anderes kreieren wolle, dürfe das gerne tun. Das Vorgehen habe sich bei anderen Gemeinschaftsprojekten dieser Größenordnung bewährt. Wie gesagt - Stress und Termindruck kommen beim Freundeskreis nicht auf.
Dada, Comic und Kontraste
Trotz aller Freiheiten sind 800 Federn zusammengekommen. Klar erkennbar ist, dass jeder Künstler seinen eigenen Stil eingebracht hat. Viele von ihnen muten dadaistisch an, andere sind im Comic-Stil gehalten und einige bestechen durch klare Kanten und starke Kontraste. Wichtig ist Simon, dass die größeren Außenfedern so gestaltet wurden, dass ihre Klienten die eigenen Werke im Werk wiedererkennen können. Wie bei früheren Projekten auch wurden die Materialien aus nachhaltigen Quellen gewonnen - in Falle der Federn aus Altpapier. Diese wurden dann elegant geschwungen und stehen in ihrer farblichen Pracht den Kostümen des brasilianischen Karnevals in Rio in Nichts nach.
Angebracht sind die einzelnen Elemente auf einem Holzgestell, das in der hauseigenen Schreinerei-Werkstatt passgenau als Tragfläche für jeden Flügel gebaut wurde. »Mit jeweils vier Schrauben und vier Dübeln hängen wir sie dann unten in den Aufenthaltsraum«, erklärt die Betreuerin. Die Wand dafür habe man extra frisch und gleißend weiß gestrichen, damit die knalligen Farben besonders gut zu Geltung kommen. Die Höhe, in der die Flügel angebracht werden, ist bewusst gewählt: Wie bei der Vernissage am 17. Oktober präsentiert wird, sollen sich Menschen jeder Größe davor stellen können, um sich für eine kurze Zeit Flügel wachsen zu lassen.
Mit 80 bis 90 Personen rechnet Simon bei der großen Eröffnung. »Wir gestalten gerade noch die Rückseite unserer Eintrittskarten«, erklärt sie. Der Rest sei vorbereitet, für Verpflegung ist gesorgt und ihr Klient Malte habe zudem ein Sicherheitskonzept erarbeitet - mit Warnweste, Stanzgerät für die Karten und Walkie-Talkies. Alles, was man für ein rundes Event eben braucht. (GEA)