Wir hakten nach und trauten unseren Ohren ein weiteres Mal nicht. Der Lehrer wog seine Worte bedächtig. Und jetzt stand schwarz auf weiß in unserem Schreibheft: »Ich habe den Namen zwar schon einmal gehört, aber ich kann nichts Genaues dazu sagen.« Wir waren erschüttert.
Hermann Hesse, unserer gegenwärtiger Lieblingsautor! Hermann Hesse, der Literaturnobelpreisträger! Hermann Hesse, dessen Lebenswege wir in Calw und Maulbronn nachgespürt hatten! Hermann Hesse, der in seinem Roman »Unterm Rad« wohl für viele Heranwachsende den Lebensnerv exakt getroffen hat! Ist dieser Hermann Hesse, 44 Jahre nach seinem Tod, schon vergessen? Ist Hermann Hesse, wie in seinem Roman, unter die Räder gekommen? Literarische Vergangenheit?
»Er ist zu kritisch und zu depressiv - Hesse taugt als Schullektüre überhaupt nicht«
Schwarz auf weiß steht Hesses Prophezeiung in seinem Roman: »Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner?«
Vielleicht wird Hermann Hesse verdrängt, beiseite geschoben. Vielleicht ist er bereits jetzt nicht mehr als eine Randnotiz im großen Literaturbetrieb, der jedes Jahr zur Buchmesse tausende neue Bücher hervorbringt, die nicht nur gelesen, sondern insbesondere gekauft sein wollen. Heute steht Harry Potter auf der Bestsellerliste. Phantasiegeschichten sind gefragt.
Wie sieht es wohl in 20 Jahren aus? Wird dann der Name Hermann Hesse vollkommen vergessen sein? Werden unsere Kinder in der Schule nichts mehr über einen so immens wichtigen Mann der deutschen Literatur lernen?
Nachdenklich und noch immer sprachlos schleichen wir uns davon. Wir wollen unser Glück noch einmal versuchen. Doch dabei merken wir schnell, dass der Weg zu Hermann Hesse nur über Umwege zu erreichen ist. Mancher Lehrer geht uns aus dem Weg, macht einen Bogen um uns, hat Ausflüchte parat: Keine Zeit, vielleicht ein anderes Mal, nicht jetzt. Wir sollen vertröstet werden. Doch wir geben nicht so schnell auf bei unserer Fährtensuche. Und wir haben Glück.
Jetzt haben wir ihn gefunden, den Lehrer, der unseren Fragen Rede und Antwort steht: »Was fällt Ihnen zu Hermann Hesse spontan ein?«, stellen wir unsere Frage bewusst allgemein. Und schon sprudelt es aus ihm heraus. Und während der Lehrer ein wahres Feuerwerk über Hermann Hesse abzieht, gewinnen wir den Glauben an unsere Vorbilder wieder zurück.
Und nicht nur das: wir erfahren auch, dass Hermann Hesse nicht nur den Literaturnobelpreis bekommen hat, sondern auch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Lehrer scheint ein wahrer Hesse-Fan zu sein. Er weiß alles über ihn.
Sehr erleichtert über die tolle Ausbeute, machen wir uns wieder auf die Suche nach Freiwilligen, die sich unserer kleinen, nicht gerade repräsentativen Umfrage stellen. Auf der Suche nach weiteren Opfern unterhalten wir uns über die Ergebnisse der Umfrage. Da läuft uns - wie aus dem Unterholz heraus - völlig unerwartet ein Deutschlehrer über den Weg. Sehr gut! Ob der uns auch so viel über Hermann Hesse sagen kann?
»Hesse kann noch immer Vorbild und Helfer in scheinbar ausweglosen Situationen sein«
Weit gefehlt! Entgegen unseren Erwartungen bekommen wir über Hesse nur negative Rückmeldungen. »Er ist zu kritisch und zu depressiv«, erfahren wir. Und nicht nur das: »Hermann Hesse taugt als Schullektüre überhaupt nicht.«
Uns kommen bei diesen Worten die Bilder der Klosterschule, die wir in der vorigen Woche besucht hatten, in den Sinn: das alte Gebäude, die langen Korridore und die trostlosen Kirchenbänke. Wie soll man bei diesem Anblick sonderlich fröhlich sein?
Auch Hermann Hesse befand sich oft in auswegloser Lage. Seine Mutter starb viel zu früh, dem Erwartungsdruck von außen konnte er nicht standhalten, sein beruflicher Lebensweg war von Irrwegen gezeichnet. Doch all seine Probleme hat Hermann Hesse mit den Mitteln der Literatur bewältigt. Genau deshalb kann Hermann Hesse noch immer Vorbild und Helfer in scheinbar ausweglosen Situationen sein. In unserer heutigen Zeit, die auch von Hunger, Armut und Ausbeutung gekennzeichnet ist, gilt dies umso mehr. (ZmS)
Jerg Alexander Bengel, Leon Kurz, Friedrich-List-Gymnasium, Klasse 9 d