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Ganz normal, nur schlauer

REUTLINGEN/TÜBINGEN. Vor ein paar Jahren waren sie noch völlig unbeachtet, doch jetzt werden sie immer mehr zum Thema: Kinder mit Hochbegabung. ZmS-Reporterinnen sprachen mit Diplom-Psychologin Regine Lang von der Arbeitsgruppe Hochbegabung in Tübingen.

ZmS: Wie viele Hoch begabte gibt es in Deutschland?

Regine Lang: In Deutschland sind etwa drei Prozent aller Kinder hoch begabt, aber nicht alle sind auch getestet.

Ab wann ist man hoch begabt?

Lang: Man sagt ab dem Intelligenzquotienten von 130. Doch nicht nur der IQ ist zur Diagnose wichtig. Die einen sind schon ab einem IQ 128 oder 129 hoch begabt, andere nicht. Es kommt auch immer auf die Stimmung an dem Tag, an dem man getestet wird, an. Man merkt die Begabung auch durch Gespräche mit den Kindern oder den Eltern und auch an den Interessen, die das Kind hat.

Wie merkt man, ob jemand hoch begabt ist?

Lang: Ob jemand hoch begabt ist, merkt man nicht an den Noten, denn auch Hochbegabte schreiben manchmal schlechte Noten. Es sind ganz normale Kinder. Nur manche fallen dadurch auf, dass sie richtig unangenehm sind. Anzeichen für eine Hochbegabung sind zum Beispiel, dass sich die Kinder vor der Einschulung Lesen beibringen, viel wissen, oft Recht haben, wegen ihrem Wissen und dass alles perfekt sein muss. Oft lernen Hochbegabte vieles auswendig. Mädchen und Jungen sind da sehr verschieden. Meistens interessieren sich Mädchen für mehrere verschiedene Dinge, Jungen dagegen nur für ein oder zwei Sachen.

»Kleinere Kinder nehmen ihre Begabung gar nicht wahr«

Ab welchem Alter kann man feststellen, ob Kinder hoch begabt sind?

Lang: Das ist unterschiedlich. Ich habe ab und zu auch dreijährige Kinder hier. Sehr selten sogar Kinder ab zwei Jahren. Doch in diesem Alter kommt es sehr darauf an, wie die Kinder an diesem Tag gelaunt sind. Sie werden noch sehr schnell abgelenkt. Wenn zum Beispiel eine Katze draußen vorbeiläuft, ist oft die Katze das Einzige, worauf sich das Kind konzentrieren will. Ein anderer Punkt ist, dass die Sympathie bei kleinen Kindern eine große Rolle spielt. Also ob ich sympathisch auf die Kinder wirke. Doch eigentlich ist es erst ab fünf Jahren sinnvoll, die Kinder einen Test machen zu lassen. Oder wenn es dann um die Frage geht, ob das Kind überspringen soll oder auch ähnliche Probleme auftauchen.

Lassen sich auch Erwachsene testen?

Lang: Die meisten, die hier getestet werden, sind zwischen vier und 14. Manchmal kommen auch 18-Jährige, aber Erwachsene eher selten, weil sie sich nicht trauen. Sie haben Angst, dass das Ergebnis nicht so gut ausfällt. Ab und zu kommen Studenten und lassen sich interessehalber während des Studiums testen.



Wie sehen die Tests aus, die mit den Kindern gemacht werden?

Lang: Bei Kleinkindern macht man viel mit Bildern. Manche können auch schon vor der Schule lesen. Bei älteren kann auch schulisches Wissen abgefragt werden. Genauso wie bei Erwachsenen. In Tests gibt es oft drei Bereiche. Zum einen den mathematischen Teil, in dem viel gerechnet wird. Außerdem den Teil übernatürliches Denken und abstrakte Bilder. Der dritte Teil besteht aus sprachlichen Aufgaben. Auch Merkaufgaben können vorkommen.

Von wem werden die Kinder zu Ihnen geschickt?

Lang: Unterschiedlich. Das sind zum einen die Lehrer - wegen besonders guten Leistungen - oder Ärzte, die bei Untersuchungen festgestellt haben, dass das Kind schon sehr viel weiß. Wenn die Kinder von Ärzten geschickt werden, geht es meistens um eine vorzeitige Einschulung. Wir bieten auch Fortbildungen für Erzieherinnen an, und diejenigen, die an einer solchen Fortbildung teilgenommen haben, schicken auch Kinder zu uns. Und dann kommen natürlich auch Eltern von sich aus mit ihren Kindern. Denen ist es oft peinlich, und sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Kind falsch eingeschätzt haben könnten. Doch meistens liegen die Eltern richtig, wohingegen die Lehrer, Ärzte und Erziehrinnen eher mal daneben liegen.

Wie verhalten sich die Kinder?

Lang: Es ist ein Problem der Gesellschaft, dass gedacht wird, hoch begabte Kinder seien schwierig, haben soziale Probleme, seien Alleingänger und arrogante Schnösel. Doch eigentlich sind diese Kinder wie alle anderen Kinder auch, nur eben schlauer. Die meisten durchlaufen die Schule ganz normal, schließen ein Studium ab und führen ein ganz normales Leben. Natürlich gibt es auch diejenigen, die wirklich solche Alleingänger sind, sich von anderen abkapseln und gerade das typische Bild geben, das die meisten Leute von hoch begabten Kindern haben. Doch die meisten Kinder sind wirklich ganz normal, nur dass sie intelligenter sind.

Haben Hochbegabte in anderen Bereichen auffallende Defizite?

Lang: Es gibt verschiedene Varianten, doch wenn ein Kind nur in einem Bereich besonders schlau ist, spricht man nicht von einer Hochbegabung. Hoch begabt ist, wenn die Kinder in vielen Bereichen begabt sind. Wenn ein Kind nur eine punktuelle Begabung hat und sonst eine eher geringe Intelligenz hat, spricht man von »idiots savants«.

Wie gehen die Kinder mit ihrer Hochbegabung um?

Lang: Die kleineren Kinder nehmen ihre Begabung gar nicht wahr. Die meisten Eltern wollen, dass sich ihre Kinder normal entwickeln und sagen den Kindern häufig nicht, dass sie hoch begabt sind. Viele wollen auch gar keine hoch begabten Kinder haben, denn es kann sehr schwer sein, damit umzugehen. Es gibt natürlich auch die Kinder, die mit ihrer Hochbegabung angeben. Sie sind arrogant und geben genau das Bild ab, das die Gesellschaft von hoch begabten Kindern hat. Das ist allerdings eher vereinzelt. Besonders bei Mädchen ist es der Fall, dass sie sich den anderen Kindern anpassen wollen. Sie verstecken ihre Hochbegabung, um so zu sein wie die anderen. Manche machen sogar absichtlich Fehler in Arbeiten, um nicht aufzufallen.

»Die meisten Eltern wollen, dass ihre Kinder sich normal entwickeln«

Gibt es auch Grundschulen oder sogar Kindergärten für hoch begabte Kinder?

Lang: Es gibt ganz, ganz wenige Grundschulen für Hochbegabte in Deutschland. Eine davon ist in Rostock. Auch Kindergärten gibt es nur sehr wenige. Diese werden nur in Anspruch genommen, wenn sich das Kind überhaupt nicht zurechtfindet. Meistens wird versucht, dass man die Kinder mit Extraaufgaben beschäftigt. An manchen Schulen gibt es Aktionen für Hochbegabte, etwa in Villingen-Schwenningen mit vier Stunden in der Woche. Sonst nehmen die Kinder ganz normal am Unterricht teil. Gymnasien gibt es dann schon mehrere. In Baden-Württemberg sind es derzeit zwei. Eines in Neckar-Gmünd, das Leonardo-da-Vinci-Gymnasium, das ab der fünften Klasse ist, und das Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch-Gmünd, das ab der siebten Klasse ist. Die Schulen sind immer mit einem Internat verbunden, was auch der Grund dafür ist, dass man nach Schwäbisch-Gmünd erst in der siebten Klasse kann, weil die Kinder sonst noch zu klein sind.

Spielt die Erziehung der Eltern auch eine Rolle, ob Kinder hoch begabt sind?

Lang: Ein großer Teil der Intelligenz wird vererbt. Die Eltern hoch begabter Kinder haben oft einen höheren Schulabschluss. Und es kommt nur selten vor, dass Eltern mit einem Hauptschulabschluss hoch begabte Kinder haben. Natürlich hängt die Begabung auch zum Teil von der Erziehung ab. Wenn die Eltern selbst und mit den Kindern viel lesen, Wissen an ihre Kinder weitergeben, im Urlaub auch mal in ein Museum gehen und nicht nur im Liegestuhl liegen oder auch Kulturelles anschauen, wird das Interesse der Kinder an Wissen gefördert und auch die Intelligenz.

»Es sollte viel mehr Verständnis in der Gesellschaft da sein«

Wie geht die Gesellschaft damit um?

Lang: Da hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Vor ein paar Jahren war Hochbegabung noch gar kein Thema. Aber auch heute noch wird es von der Gesellschaft sehr schlecht aufgenommen. Es wird einfach nicht gesehen, dass auch Hochbegabte gefördert werden müssen. Viele denken: Die sind doch schon schlau, warum muss man sich um die kümmern? Die Eltern von Hochbegabten haben oft mit dem Neid zu kämpfen. Besonders schwer haben es die Mütter. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie sich zu viel um ihre Kinder kümmern und dass sie es darauf angelegt haben, ein besonders schlaues Kind zu haben. Die Gesellschaft sieht nicht, dass die Kinder lernen wollen und nicht dazu gezwungen werden. Manche glauben sogar, dass man es mit Hochbegabten leichter hat, was aber nicht stimmt, da sie auch Macken haben, genau wie andere.

Was muss sich in der Gesellschaft ändern?

Lang: Man müsste auf jeden Fall den Neid abbauen, der von den Eltern kommt, die keine hoch begabten Kinder haben. Es sollte viel mehr Verständnis für hoch begabte Kinder in der Gesellschaft da sein. Bei uns im Staat ist es so, dass sehr viel für Kinder getan wird, die schulisch schwach sind. Ich denke, man sollte auch mal in die andere Richtung arbeiten. Eine Hochbegabung ist auch nicht ganz einfach zu handhaben, und deswegen sollte man dafür sorgen, dass diese Kinder gefördert werden, anstatt sie zu unterfordern.

Wie sind Sie auf diesen Beruf gekommen?

Lang: Ich habe nach dem Abitur nicht gewusst, was ich machen soll und habe dann eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, was auch nett war. Anschließend an die Ausbildung habe ich dann Psychologie an der Uni Tübingen studiert, und da war ich dann in einer Vorlesung bei Frau Stapf, die mit hoch begabten Kindern arbeitet. Sie hat mich dann gefragt, ob ich ein Praktikum bei ihr machen möchte, was ich auch gemacht habe. Ich wurde dann ihre Assistentin und Tutorin in ihrem Seminar und habe mir dann überlegt, dass man den Beruf Erzieherin und das Studium gut miteinander verbinden kann. Das hat gut geklappt, und es macht Spaß mit den Kindern zu arbeiten. (ZmS) Das Interview führten Luisa Wehr und Christina Sons, Bildungszentrum Nord, Reutlingen, Klasse 10 a