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Aktuell Leben

Die Geschichte eines Immigranten

REUTLINGEN. Immigration ist in Deutschland ein großes Thema. Rund 20 Prozent unserer Bevölkerung machen sie aus, besonders in Reutlingen sind viele Immigranten zu sehen. Ein Leben ohne sie ist unvorstellbar. Sie prägen unseren Alltag mit und sind ein sehr wichtiger Teil unserer Stadt. Doch haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, welche Geschichte hinter ihnen steckt? Was sie alles erlebt haben, um hierher zu kommen? Ich bin selbst Tochter von Immigranten und möchte mit Ihnen die Geschichte meines Vaters teilen.

Nachdem wegen des Krieges in Portugal alles kaputt und heruntergekommen war, hatten die meisten Menschen kaum etwas und mussten mit ihrer Lebenssituation kämpfen. Mein Vater, der aus einer armen Familie stammt, hatte es nicht leicht. Er, seine Eltern und vier Geschwister lebten bei seinen Großeltern und fingen schon mit elf Jahren an, für einen Hungerlohn zu arbeiten, um ihr Überleben zu sichern. »Damals hatte man nicht viele Möglichkeiten. Jeder, der die Chance hatte, auszuwandern, hat diese ergriffen«, erinnert sich mein Vater.

»Das ist eine Fahrt, die dir für immer in Erinnerung bleibt«
Als sein Vater 1963 einen Vertrag für die ganze Familie in einer Textilfabrik angeboten bekam, zog er anfangs alleine nach Deutschland, um dort zu arbeiten. Der restlichen Familie blieb nichts anderes übrig, als 1966 nachzukommen. Mein Vater mit seinen damals 17 Jahren wollte nicht auswandern, obwohl er wusste, dass er in Deutschland ein besseres Leben führen würde. Doch er wollte in seiner gewohnten Umgebung bleiben, bei seinen Freunden, die ihm wichtig waren, er wollte sein gewohntes Leben nicht verlieren. Doch egal, was er machte, er hatte keine Wahl: »Egal was mein Vater verlangte, sein Wort war Gesetz.«

Als der Morgen der Auswanderung kam, nahm jeder seinen großen Koffer und so machten sie sich auf den Weg zum Zug. Bis heute, 48 Jahre später, kann sich mein Vater noch genau an seinen ersten Gedanken im Zug erinnern: »Wenn er losfährt, spring ich raus.« Doch da er in der Mitte stand und der Zug überfüllt von Auswanderern war, war es ihm nicht möglich, an die Tür zu kommen.

Fast drei Tage dauerte die Fahrt. Die Menschen schliefen auf der Sitzbank, manche sogar auf dem Boden. Auf engstem Raum mit vielen Menschen, die dasselbe Ziel hatten wie mein Vater und seine Familie: ein besseres Leben im Ausland. »Das ist eine Fahrt, die dir für immer in Erinnerung bleibt, du hast diese Fahrt, diese Zeit damals immer vor Augen, es lässt dich nicht mehr los.«

Für die Familie war es ein schwerer Abschied: Die vierjährige kleine Schwester musste zurückbleiben. »Mein Vater wollte, dass wir ungestört arbeiten konnten, um reichlich Geld zu verdienen. Er meinte, dass meine Schwester nur gestört hätte, da sie noch zu jung war, um etwas zu verdienen und beizusteuern.« Die gesamte Familie stellte sich dagegen. Seine Schwestern wollten keinen Teil von sich zurücklassen, seine Mutter wollte es nicht übers Herz bringen, ihr eigenes Fleisch und Blut nur einmal im Jahr zusehen. Doch egal, was sie sagten, es brachte nichts. Man konnte den Vater nicht umstimmen und alle wussten, dass sich dies nicht ändern würde. Sie hatten keine andere Wahl, als das Land mit diesem Verlust zu verlassen.

So wuchs die Schwester meines Vaters bei ihren Großeltern auf, bis sie 18 Jahre alt war. Mein Vater konnte sie erst nach elf Jahren wiedersehen. Er hatte Portugal mit 17 Jahren verlassen und wäre sofort in den Kolonialkrieg geschickt worden, sobald er mit seinen 18 Jahren zurückgekehrt wäre. Erst nachdem die Diktatur 1974 abgeschafft wurde, durfte er wieder zurück in sein Heimatland. Beim ersten Wiedersehen wirkte sie ihm wie fremd. Elf Jahre lang entwickelte sie sich, wuchs auf, er hatte keine Chance, diese Veränderungen mitzuerleben: »Als ich gegangen bin, war sie ein kleines Mädchen. Und auf einmal steht eine junge Dame vor mir.«

»Man weiß nie, wie es mir ergangen wäre, wenn ich geblieben wäre«
1966 in Deutschland angekommen, merkte mein Vater sofort, dass alles anders war: die Straßen, die Menschen, die Ruhe. »Man ist einfach begeistert von diesem Riesen-Unterschied«, schildert er seine Befindlichkeit damals. Die Wohnung, in der die Familie anfangs lebte, wurde ihr von der Textilfabrik zur Verfügung gestellt. Ein Unterschied wie Tag und Nacht im Vergleich zu ihrem Haus in Portugal. Riesige Schränke, riesige Betten, alles modern, etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatten, etwas völlig Unbekanntes. »Da haben wir uns gleich wohlgefühlt, weil man niemals gedacht hätte, dass man so eine Unterkunft bekommt.«

Letztendlich ist mein Vater glücklich über die Auswanderung, trotz allem, was er hinter sich lassen musste und sich verändert hat. Er verlor viele Cousins, die keine Möglichkeit hatten, aus Portugal zu fliehen und deshalb im Krieg gefallen sind. »Man weiß nie, wie es mir ergangen wäre, wenn ich geblieben wäre. Mir ist klar geworden, dass mein Leben so besser ist!« (ZmS)

Celine Almeida, BZN-Gymnasium Reutlingen, Klasse 9