Logo
Aktuell Leserbrief

»Zartes Pflänzchen wird invasive Pflanze«

Nachtleben in Reutlingen (per E-Mail)

Ehrlich gesagt, mag ich den Spruch vom wiederauflebenden zarten Pflänzchen des Reutlinger Nachtlebens nicht mehr hören oder im GEA lesen. Korrekter wäre leider von einer invasiven Pflanze zu sprechen, die zunehmend das Habitat Oberamtei-Kanzleistraße beherrscht und andere Habitat-Bewohner verdrängt.

Im Bericht zum Sommerfest war sehr schön zu lesen: »Mit der Sperrstunde war es dann auch schon vorbei.« Vielleicht hätte die Autorin noch ein wenig länger verweilen sollen: Für die Anwohner war der Spaß nämlich erst nach 4 Uhr vorbei. Für die Stadtreinigung begann er gegen 7.30 Uhr beim Bemühen, erschreckende Mengen von Plastik- und Glasmüll zu beseitigen.

Das Sommerfest ist eine schöne Idee, aber es ist an besagter Ecke aus dem Ruder gelaufen. Tolerierbar, wenn es ein paar Mal im Jahr passiert. Da heißt es als Anwohner halt: Augen und Ohren zu und durch. Leider ist unsere Toleranz diesbezüglich aufgebraucht. Seit einem Jahr ist die Sperrstunde an besagter Ecke für wenige der dortigen Betreiber Makulatur.

Eigentlich sollte in der Außengastronomie laut Aussage des Ordnungsamts draußen um 23 Uhr Schluss sein. Wohl gemerkt, nicht nur am Wochenende, sondern täglich. Ab Donnerstag oder teilweise schon Mittwoch wird die Außengastro jedoch gerne bis nach Mitternacht bedient. Dank des Einsatzes zahlreicher Heizstrahler auch den gesamten Winter hindurch (so kann man das Motto »klimafreundliche Stadt« natürlich auch umsetzen).

Schlafen bei auch nur gekipptem Fenster ist unmöglich. Schlafen bei geschlossenen Fenstern bei steigenden Temperaturen zunehmend auch. Das Bild am Morgen macht auch keine Freude: jede Menge Plastikmüll.

Vom Ordnungsamt bekommen wir nur zu hören: »Wenn es Sie stört, rufen Sie nachts halt die Polizei.« Diese wiederum – verständlicherweise zunehmend genervt: »Das Problem ist uns bekannt. Wir schicken eine Streife, wenn eine frei wird, kann aber dauern. Und viel ausrichten kann die auch nicht, da müsste halt die Stadt mal …«

Von der Stadtverwaltung fühlen wir uns als Anwohner im Stich gelassen, um nicht zu sagen verar… Der Eindruck drängt sich auf, dass hier seitens der Verwaltungsspitze (?) eine starke schützende Hand über die Betreiber gehalten wird. Vielleicht hat OB Keck ja das Ziel »autofreie Altstadt« durch »anwohnerfreie Altstadt« ersetzt.

Letzterem nähert er sich jedenfalls erfolgreich in großen Schritten: Wir leben seit 25 Jahren in der Kanzleistraße. Haben eine heruntergekommene Immobilie über Jahre mit nicht geringem Kapital- und Arbeitseinsatz saniert. Entfernen regelmäßig Müll. Haben im letzten Jahr zwei Mal auf eigene Kosten Graffiti überstreichen lassen. Auch im Sinne eines gepflegten Stadtbilds. Wir erwarten nicht, in der Stadt so ruhig zu leben wie in einem kleinen Dorf. Wir möchten in einer lebendigen Umgebung leben, wozu auch eine lebendige Gastroszene gehört. Aber im Sinne eines Miteinanders und gegenseitigen Respekts, wozu das Einhalten von ein paar Regeln gehört.

Wenn dies nicht freiwillig erfolgt, dann ist unseres Erachtens die Stadtverwaltung in der Verantwortung, diese Regeln durchzusetzen und nicht aktiv wegzuschauen, damit der GEA wieder das zarte aufkeimende Nachtleben loben kann. Eine Altstadt ohne engagierte Anwohner ist auch nicht lebendig, oder?

 

Gabriele Vollmar, Reutlingen