Der Kommentator des GEA, Herr Lange, fordert einen differenzierten Blick auf das Thema Bürgergeld, lässt diesen aber selbst eklatant vermissen. Er bedient die Schlagworte und Vorurteile der politischen Rechten über vermeintlich arbeitsunwillige Bürgergeld-Empfänger und unterstellt »nicht alle(n) der Bedürftigen« – aber offenbar vielen – eine Krankheit vorzutäuschen.
Vermutlich kennt Herr Lange weder einschlägige Studien zum Bürgergeld, noch die Realität vieler Sozialleistungsempfänger. Zunächst einmal: 57 Prozent der »erwerbsfähigen« Leistungsberechtigten sind nicht arbeitslos, sondern aufgrund unterschiedlicher Lebenssituationen (Ausbildung, Kindererziehung, Pflege, Krankheit et cetera) oder als Aufstocker wegen niedriger Arbeitslöhne auf die Leistungen des Jobcenters angewiesen (Bundesagentur für Arbeit, Juli 2024). Nach Angaben der Arbeitsagentur waren 2023 nur 0,9 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfänger, weniger als 14.000 Personen, »Totalverweigerer«.
Der Anteil der Personal- und Verwaltungskosten bei den Jobcentern nimmt zu, während immer weniger Mittel für die Arbeitsförderung zur Verfügung stehen. Wer Menschen zum Jobcenter begleitet, Einsicht in die Schreiben des Jobcenters bekommt oder bei der wenig kompetenten Hotline um eine telefonische Auskunft bittet, kann nur den Kopf schütteln angesichts dieses bürokratischen Monstrums. Da werden die Anträge einer Familie im Reutlinger Jobcenter in unterschiedlichen Abteilungen (für Beratung und Leistungen) und wegen unterschiedlicher Familiennamen scheinbar unkoordiniert von drei Ansprechpersonen bearbeitet. Ein berufstätiger Leistungsempfänger wird alle paar Wochen während seiner Arbeitszeit zu einem Beratungstermin einbestellt und muss sich dafür extra frei nehmen. Ich habe den nach der Theorie unwahrscheinlichen Fall tatsächlich erlebt, dass ein aus Syrien geflohener und in Vollzeit arbeitender Elektriker und Familienvater aufgrund ständiger Nachberechnungen und Rückforderungen eine Zeit lang weniger Geld zur Verfügung hatte, als wenn er und seine Familie ausschließlich von Sozialleistungen gelebt hätten.
Eine Person aus meiner eigenen Familie bekam nach einem geisteswissenschaftlichen Universitätsabschluss von der Beraterin eines Jobcenters zu hören: »Mit dem Abschluss finden Sie eh nix.« Dafür wurde sie zu Jobs im Callcenter, im Altersheim oder als befristete Weihnachts-Aushilfskraft bei Amazon genötigt. Nach einiger Zeit in diesen Jobs begann sie ein Informatik-Studium, schloss dieses mit dem Bachelor ab und ist jetzt aufgrund von Long Covid erneut auf Bürgergeld angewiesen. Gut, dass es dieses gibt! Die systembedingte Realität vieler Leistungsempfänger ist jedoch trotz vieler engagierter Jobcenter-Mitarbeiter: Kontrolle und Gängelung, Ineffizienz und wenig adäquate Vermittlungs- und Weiterbildungsangebote. Und wer einen der vielen mehrseitigen Bescheide des Jobcenters liest, stellt fest, dass diese auch für jemanden mit Abitur und Hochschulstudium und erst recht mit geringen Deutsch-Kenntnissen kaum verständlich sind. Dies wiederum bindet die kostbare Arbeitszeit des Jobcenter-Personals ebenso wie die vieler ehrenamtlicher Helfer.
Wir brauchen ein effizientes System, das die ausreichende Unterstützung für Bedürftige verknüpft mit sinnvollen Maßnahmen zur Arbeits- und Ausbildungsförderung; das Klienten nicht mit Misstrauen überschüttet und gängelt, sondern sie bei der Arbeitssuche motiviert und unterstützt. Dazu braucht es aber auch existenzsichernde Arbeitslöhne und ausreichende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, deren Eltern gern arbeiten würden, aber wegen familienbedingter Arbeitslosigkeit keinen Kita-Platz bekommen. Dies könnte ein Auftrag für die künftige Regierungskoalition in Berlin sein.
Traugott Huppenbauer, Reutlingen