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Aktuell Leserbrief

»Was Friedrich List schon vor 180 Jahren prophezeite«

Zum Artikel »Der US-Hegemonie folgt Pentarchie« vom 20. Dezember (per E-Paper)

Am 20. Dezember berichtete der GEA über einen Vortrag des Berliner Politikwissenschaftlers und Politikberaters Herfried Münkler, den dieser unlängst im Tübinger Museumssaal gehalten hat. Im Mittelpunkt des Vortrages stand die These, dass nach dem Verlust der USA als globale Hegemonialmacht, »ein System der Pentarchie mit fünf großen Mächten für die wahrscheinlichste Konstellation« im weltpolitischen Machtgefüge zu erwarten sei.

Man könnte meinen, dass Friedrich List bei dieser These Pate gestanden hätte, weil er im Rahmen seiner genialen »Politik der Zukunft« schon vor über 180 Jahren exakt diese Vision zu Papier gebracht hat. Um dies deutlich zu machen, zitieren wir seine eigenen Worte, die wir aus Platzgründen allerdings thesenartig zusammenfassen müssen.

1. Dank seiner technologischen Führung und seiner imperialen Kolonialpolitik entwickele sich Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur weltpolitischen Hegemonialmacht. 2. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts werde diese Rolle in zunehmendem Maße durch die Vereinigen Staaten, "als neu entstehende Riesenmacht im Westen" verdrängt. 3. Auch die Vormachtstellung der USA werde nicht von Dauer sein. 4. Denn ab der Mitte des 20. Jahrhunderts werde mit China "eine zweite Riesenmacht im Osten" entstehen, welche die "Bevölkerungszahl der Riesenmacht der Neuen Welt im Westen im Verlauf der nächsten Jahrhunderte weit übersteigen, an Reichtum aber ihr wenigstens gleichkommen dürfte". 5. Aber auch diese hegemoniale Poleposition der beiden Riesenmächte sei von begrenzter Dauer. 6. Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert rechnete Friedrich List mit folgender weltpolitischer Konstellation: "Soweit er das mit seinen schwachen Augen zu sehen vermöge, werde es Ende des 20. Jahrhunderts nur zwei Riesenmächte und nur drei oder vier unabhängige Nationen geben – also eine "Pentarchie"?

Damit schließt sich der Kreis zum Vortrag von Herfried Münkler, der deutlich macht, mit welch grandioser Sehergabe Friedrich List ausgestattet war. Welcher Politiker und Ökonom ist heute in der Lage, derart weitsichtige Prognosen zu wagen? Diese visionäre Gabe deckt sich mit dem Motto von Lists zweiter Pariser Preisschrift mit dem Titel: »Le monde marche – Die Welt bewegt sich«.

Gleichzeitig muss man bedauern, dass unsere führenden Politiker in Europa und den USA von diesen und anderen Visionen Lists keine Ahnung hatten und haben und dessen Denkart weder in der heutigen Wirtschaftswissenschaft noch in der aktuellen politischen Diskussion bekannt ist oder eine nennenswerte Rolle spielt. Seine damaligen Grundgedanken könnten zum Beispiel auch für die aktuelle Diskussion über die globalen ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland von einigem Nutzen sein.

 

Prof. Dr. Dr. Eugen Wendler, Reutlingen