Es ist zutiefst erschütternd, wie die Weltgemeinschaft erst jetzt, nach dem scheinbar endgültigen Abgang von Bashar al-Assad, wirklich auf Syrien schaut. Jahrelang wurden die Schrecken des Krieges ignoriert oder zumindest nicht ausreichend ernst genommen, als Millionen von Syrern in einem unvorstellbaren Blutbad litten. Es gab eine Zeit, in der die internationale Gemeinschaft die Augen vor dem Leid verschloss – trotz der grausamen Bilder, der chemischen Waffenangriffe und der Millionen von Flüchtlingen, die das Land verließen.
Warum erst jetzt? Diese Frage quält mich, denn der Verlust an Menschenleben, das Leid von Familien, die Zerstörung der Kultur und Infrastruktur sind unermesslich. Die Interventionen vieler Länder in Syrien – sei es aus geopolitischen, ideologischen oder sicherheitsstrategischen Gründen – waren oft von Eigeninteressen geprägt, anstatt auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgerichtet zu sein. Russland und der Iran standen hinter Assad, der Westen war zögerlich oder gespalten, und die Türkei hatte ihre eigenen Interessen. Die syrische Bevölkerung jedoch, die keinen Teil des geopolitischen Spiels spielte, wurde immer wieder geopfert. Dass nun, nach über einem Jahrzehnt des Krieges, ein gewisses Engagement in Syrien zu erkennen ist, weckt in mir eine Mischung aus Wut und Trauer. Wut darüber, dass die internationale Gemeinschaft erst jetzt zu handeln beginnt, nachdem Assad seinen siegreichen Kurs beendet hat. Trauer, weil zu viele Jahre ungenutzt verstrichen sind, in denen die Welt hätte eingreifen können, um das Leben von Millionen zu retten.
Syrien steht immer noch vor enormen Herausforderungen – vom Wiederaufbau über die Rückkehr der Flüchtlinge bis hin zur Wahrung von Stabilität und Gerechtigkeit. Wäre die Weltgemeinschaft früher aufgestanden, hätte der Krieg vielleicht nicht so viele Leben gefordert und der Frieden wäre vielleicht schon eher greifbar gewesen.
Inmitten dieses humanitären Versagens ist es auch unverständlich, wie heute noch über das Asylrecht und den Umgang mit syrischen Geflüchteten in Ländern wie Deutschland debattiert wird. Das Recht auf Asyl ist ein fundamentales Menschenrecht, das in den internationalen Abkommen verankert ist. Doch insbesondere die AfD und ihre Anhänger scheinen dieses Recht infrage zu stellen und propagieren eine ablehnende Haltung gegenüber syrischen Geflüchteten. Sie verschließen die Augen vor dem Leid, das diese Menschen ertragen mussten und weiterhin ertragen. Sie vergessen, dass viele der Syrer, die nach Deutschland kamen, vor Krieg, Folter und Verfolgung geflüchtet sind – und dass es eine moralische Pflicht gibt, diesen Menschen Schutz zu gewähren. Es erschreckt mich, dass Politiker so schnell die Abschiebungen von syrischen Menschen fordern. Diese Forderungen ignorieren die humanitären Verpflichtungen und die Realität der traumatischen Erfahrungen, die diese Menschen durchlebt haben. Es ist beängstigend, dass die politische Rhetorik zunehmend auf Abschottung statt auf Integration setzt.
Die Syrer, die Zuflucht in Deutschland gefunden haben, sind nicht nur Opfer eines brutalen Krieges, sondern auch ein Spiegelbild der Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft. Sie verdienen Respekt, Würde und die Möglichkeit, in Frieden und Sicherheit zu leben – und nicht die politische Ausgrenzung, die ihnen von rechten Kräften entgegengebracht wird.
Wir dürfen nicht vergessen: Es ist die Verantwortung aller, auf das menschliche Leid zu reagieren, unabhängig von politischen Interessen und geopolitischen Überlegungen. Die Frage, warum die Welt erst jetzt handelt, bleibt leider eine schmerzhafte Mahnung an die Unzulänglichkeiten der internationalen Politik.
Anna Sonnemann, Asyldiakonin, Reutlingen