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Aktuell Leserbrief

»Wahlbetrug oder Verhandlungsschwäche?«

Bundestagswahl und Koalitionsverhandlungen (per E-Mail)

Nach der taktisch herbeigeführten Abstimmung im »alten« Bundestag für die »neuen« Schuldenpakete ergießt sich der »gerechte Volkszorn« über den »Lügner und Wahlbetrüger« Friedrich Merz. Zurecht? Ethisch/moralisch ja. Andererseits: Welche Partei hat in den vergangenen Jahrzehnten ihr Wahlprogramm 1:1 umsetzen können, wenn sie auf Koalitionen angewiesen war?

Die vollmundigen Versprechen im Wahlkampf – »Wir werden …« – haben nur dann eine Chance auf Umsetzung, wenn die eigene Partei eine absolute Mehrheit erzielt.

Und selbst dann sorgen gegebenenfalls Gerichte dafür, dass solche Ankündigungen als nicht zulässig wieder einkassiert werden. Kein Wahlkämpfer verkündet im Vorfeld, welche Kompromisse er oder sie im Fall eines knappen Wahlsiegs einzugehen bereit ist.

Daher ist das »Geschwätz von gestern« (Konrad Adenauer) bei Friedrich Merz nicht besser oder schlechter als bei seinen Vorgängern. Politik und Wahrheit/Wahrhaftigkeit sind leider seit jeher zwei Paar Stiefel, die nur selten zueinanderpassen.

Was wären die Alternativen zu den umstrittenen Bundestagsabstimmungen gewesen, wenn Friedrich Merz versucht hätte, seine CDU-pur-Vorstellungen durchzusetzen: eine Niederlage im Bundestag. Und dann? Minderheitsregierung gegen 72 Prozent Opposition – oder Gesetzesvorhaben nur mit Zustimmung der AfD? (Die strikte »Brandmauer« für sämtliche Abstimmungen im Bundestag ist demokratisch ohnehin kaum zu rechtfertigen). Oder Neuwahlen, aus denen erneut AfD und Linke gestärkt hervorgegangen wären – und eine möglicherweise dann größte Partei AfD nicht mehr aus der Regierungsverantwortung ausgeschlossen werden kann? Wollen wir das?

Wahlbetrug entsteht für mich allerdings dann, wenn Friedrich Merz sich jetzt nach den (meines Erachtens zu) großen Zugeständnissen an die Grünen (Stichwort: Klimaneutralität im Grundgesetz verankert – gegen den Rest der Welt) auch von der SPD über den Tisch ziehen lässt. Denn auch diese weicht mit ihren jetzigen Forderungen bezüglich Migration und Bürgergeld wieder von ihren Wahlkampfversprechen ab und fällt in die alten Muster zurück. Der Infrastrukturfonds (500 Milliarden Euro) droht damit erneut in soziale Umverteilung und Konsum abzudriften, anstatt in zukunftsweisende strukturelle Investitionen.

Gibt Merz auch hier nach, würde de facto die abgewählte Politik von Rot/Grün fortgesetzt – nur unter »schwarzer Flagge«. Vom mehrheitlichen Wählerwillen eines Politikwechsels – insbesondere bei Migration und Wirtschaft – bliebe nichts mehr übrig.

Sollte das eintreten, wäre Merz meines Erachtens als Kanzlerkandidat durchgefallen. Zu schwach, zu unglaubwürdig. Ein Misstrauensvotum dürfte die Folge sein – und Neuwahlen, die wie beschrieben den Siegeszug der AfD beschleunigen. Die hierbei zu erwartende monatelange Hängepartie würde Deutschland in Europa und der Welt zudem weiter schwächen.

Hierin liegt meine größte Sorge. Dass Deutschland durch ideologiegetriebene, praxisferne, Koalitionsvereinbarungen faktisch handlungsunfähig bleibt. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

 

Jürgen Rabenau, Reutlingen