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Aktuell Leserbrief

»Unsere Baustellen wurden nicht angesprochen«

Zum Artikel »Ich erkenne eine Gefahrenlage« vom 4. Oktober (per E-Mail)

Warum ist Demokratie so anstrengend? Mit dieser Frage lud die Volkshochschule (VHS) Reutlingen zu einem Abend mit Claus Kleber ein – und viele Menschen kamen. So auch einige Monate zuvor auf dem Marktplatz, wo sich viele Bürger, Jung und Alt, zu einer Kundgebung versammelten, um ihre Haltung zum Ausdruck zu bringen, dass sie gegen Bedrohungen der Demokratie aufstehen und Widerstand leisten wollen.

Herr Kleber lieferte zu der Frage »Wie funktioniert seriöser Journalismus im Jahre 2024?« interessante und wichtige Impulse in seiner Analyse. Für mich war sein Beispiel der Revolution im Medienbereich eindrücklich: das Smartphone. Es schafft inzwischen zwei neue Machtpole. Auf der einen Seite stehen die Konzerne Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp) und Google, die heute Algorithmen entscheiden lassen, was uns zu interessieren hat.

Auf der anderen Seite stehen wir, jeder Einzelne von uns, mit unserem Smartphone, die wir jeglichen Inhalt ins weltweite Netz eingeben können. Fake-News oder »alternative Fakten« gehen dann um die Welt. Journalisten und Journalistinnen haben dann oft wenig Zeit für ihre Recherchearbeit, um zu prüfen, ob die Meldungen der Wahrheit entsprechen. Auch Mitglieder der Parlamente, Verbände, unabhängige Gruppierungen haben es seither schwer, »fallen meist raus«, so Herr Kleber. Wichtige Bestandteile der Demokratie gehen dabei verloren: Pressefreiheit, Qualitätsrecherchen, das Recht jedes Menschen, sich umfassend zu informieren und darauf zu vertrauen, dass Informationen stimmen.

Die letzten Monate haben gezeigt, dass es viele Baustellen in Deutschland und auch in der EU gibt. Daher hat mich das anschließende Gespräch zwischen Herrn Kleber und VHS-Leiter Dr. Ulrich Bausch zunächst irritiert und am Ende auch frustriert. Es ging ausschließlich um die Gefahren der amerikanischen Demokratie, wer die Wahlen gewinnt, was passieren könnte, wenn Trump gewinnt und so weiter.

Warum wurden die Baustellen, die wir in Deutschland und der EU haben, nicht angesprochen? Ich hätte mir gewünscht, dass die Analyse von Herrn Kleber zu Fragen führt, warum in Thüringen, Sachsen und Brandenburg so viele junge Menschen die AfD gewählt haben? Warum informieren sich die 18- bis 35-Jährigen in diesen Bundesländern ausschließlich in Sozialen Medien? Warum ist in Italien eine Vertreterin der Rechtsextremen Ministerpräsidentin? Warum erhält in Frankreich Marine Le Pen mit ihrer Partei die meisten Stimmen? Was können wir im Publikum tun, um die Demokratie zu stärken und gegen die Gefährdungen anzugehen? Was können Bildungsstätten wie die VHS, die Schulen, die Vereine, die Verbände und Medien vor Ort anders machen, um demokratische Werte zu stärken?

Dafür hätte ich gerne Impulse gehabt und wäre danach zufriedener und motivierter nach Hause gegangen. Schade. Nur zu Demonstrationen und zu Vorträgen ohne Publikumsbeteiligung zu gehen, reicht nicht mehr.

 

Irmgard Krohmer-Mack, Reutlingen