Sehr geehrte Frau Dr. Reinhardt (Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, d. Red.), mein Name ist Patricia Hintz und ich arbeite seit 36 Jahren als examinierte Krankenschwester in der Albklinik Münsingen. Mit diesem Schreiben möchte ich an Ihr Gewissen appellieren, bevor es zum »Todesstoß« so vieler Notfallpraxen in Baden-Württemberg kommt. Ich kämpfe nicht nur für den Standort Münsingen, sondern für alle Notfallpraxen in unserem Land.
Ich habe immer wieder Ihre Interviews verfolgt und war beeindruckt von Ihren Aussagen, wie etwa: »Was mich an meinem Beruf so begeistert, ist, dass das Interesse am Menschen in all den Jahren ungebrochen ist. Ich bin noch immer sehr am Menschen interessiert. Ich bin eine Hausärztin aus Leidenschaft.« Liebe Frau Dr. Reinhardt, viele Menschen ändern im Laufe ihres Lebens ihre Meinungen oder Interessen, aber dass sich die Grundeinstellung eines Menschen so stark ändern kann, finde ich beängstigend. Es macht den Eindruck, dass nun nicht mehr der Mensch, der Patient oder dessen Bedürfnisse im Vordergrund stehen, sondern ausschließlich Zahlen, Gewinne und Erträge. Hat eine neue Stellung so viel Macht über einen Menschen, dass sie seine Grundüberzeugungen verändert? 36 Prozent der Bevölkerung in Baden-Württemberg sind über 60 Jahre alt, außerdem zählen Menschen im hochbetagten Alter (85+) zu einer stark wachsenden Gruppe, etwa ein Drittel lebt im ländlichen Raum. Gerade für diese Menschen ist ein Arzt vor Ort von entscheidender Bedeutung. Wenn jedoch zunehmend der Gewinn und nicht mehr die patientenorientierte Behandlung im Mittelpunkt steht, dann ist die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in Gefahr.
Täglich arbeite ich an der »Front« in der Klinik und sehe, dass die Versorgung für unsere Patienten zunehmend schwieriger wird: längere Fahrzeiten, schlechte Infrastruktur und öffentlicher Nahverkehr, Behandlungen nur noch mit Facharztüberweisungen, und zunehmend digitale Assistenten und Hilfsmittel. Wie soll eine ältere Person mit diesen Entwicklungen zurechtkommen? Bitte erinnern Sie sich an Ihre Eltern. Wären sie in der Lage gewesen, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen, oder hätten sie sich an Sie oder Ihre Kinder gewandt? Viele Menschen im ländlichen Raum haben ihre Kinder weit entfernt wohnen und sind mit der modernen Welt, der Digitalisierung, dem Handy und dem Internet nicht vertraut – und werden es auch nicht mehr erlernen. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn eine ältere Person das Handy zückt, um zu telefonieren oder eine Nachricht zu schreiben, aber der Großteil ist damit einfach überfordert.
Liebe Frau Dr. Reinhardt, wenn es sich für Sie gut anfühlt, diesen Weg so vieler Schließungen weiterzugehen, dann tun Sie es. Aber bitte stehen Sie dann auch zu dieser Entscheidung. Ich möchte Sie jedoch um einen Gefallen bitten: Am 30. Januar findet in Münsingen in der Alenberghalle (Beutenlaystraße 3) eine Informationsveranstaltung zur geplanten Schließung der Notfallpraxen statt. Ich lade Sie ein, sich den Sorgen und der Belange der betroffenen Menschen anzuhören. Es geht nicht nur um die nächste Generation, die mit den modernen Veränderungen zurechtkommen wird. Wir müssen jetzt an unsere Eltern und Großeltern denken, die von dieser Entwicklung besonders betroffen sind.
Meine Eltern haben mir immer beigebracht, für das, was ich tue, einzustehen – für das Gute wie auch für das Schlechte. Deshalb bitte ich Sie, dass die Kassenärztliche Vereinigung diesen Termin wahrnimmt und sich den Sorgen und Nöten der Bevölkerung stellt – und nicht einfach über deren Köpfe hinweg entscheidet.
Patricia Hintz, Münsingen