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Aktuell Leserbrief

»Nicht auf innere Probleme fixieren«

Entwicklungen in der Gesellschaft (per E-Mail)

So unwahrhaftig und ablenkerisch (vom eigenen Meinungsfreiheits- und Demokratieabbau in den USA) die Rede des US-Vize Vance in München auch war, einen beachtenswerten Impuls beinhaltet sie dann vielleicht doch. Unsere Gesellschaft solle sich davor hüten »nur« auf äußere Bedrohungen zu starren (er nannte hierzu Russland und China). Umgekehrt wäre es aber auch falsch, sich nur auf jene gepushten inneren Probleme zu fixieren und Verzerrung und Übertreibung zu folgen, die das Land als völlig daniederliegend beschreiben.

Denn wenn weiterhin annähernd 100 Prozent des Vorjahres-Konsums erfolgen, die Fußballstadien so voll wie nie und die Urlaubsbuchungen auf Rekordhöhe liegen, scheinen einfach auch andere Gegebenheiten vorzuliegen, als von den rechten und konservativen Scharfmachern penetrant und immer aggressiver behauptet wird. Was das Innenleben einer westlichen Wohlstandsgesellschaft anbelangt, so scheinen grundsätzlich ein tieferer Blick und auch psychologische Analyse vonnöten. Nur so können die relevanten und systemimmanenten eigenen Gefährdungen und viele verdeckte Mechanismen der Zerbröselung von Mitmenschlichkeit, Sozialstaat, nachhaltiger Wirtschaft und letztlich auch von demokratischer Substanz erfasst werden.

Deshalb hier einige verdichtete Beispiele, die aufzeigen können, wie subtil, hochwirksam und raffiniert unsere eigenen inneren Krankheitskeime und wie (vor allem) wirtschaftliche Interessen und Treiber ihr Zerstörungswerk tun können, ohne dass irgendein Außenfeind mit hybriden Attacken, Zollerhöhungen, Terror oder gar der Atomwaffenkeule uns auf die Pelle rückt: Ein Werbeblock im TV genügt oft, um vom Konsumrausch angetörnt und mental überreizt zu sein. Viele Unterhaltungssendungen, Events, Partys und Lifestyleangebote betäuben »die Menschen« und frönen Genuss und Spaß. Zunehmende action- und gewaltverherrlichende neue (a)soziale Medienformate stimmen (falsch) männlich, aggressiv und fatal kampfes- oder konkurrenzlustig.

Geschäfts- und Bilanzberichte, Verkaufszahlen und Betriebsplanungen glorifizieren vor allem Gewinnmargen, rasantes Wachstum und Marktanteile. Produktsinnhaftigkeit ist dabei oft völlig egal. Die (moderne) Arbeitswelt frisst insofern ihre Kinder, als dass dort einerseits immer mehr (angebliche) Selbstverwirklichung, vorgetäuschter Teamgeist und Motivationskitzel zu Überforderung/Burnout führen und andererseits aber doch noch genügend krasse Hierarchie, Herr-im-Hause-Standpunkte oder Lohndrückerei bestehen. Auch viele Gesundheits- und Psycho-Boom-Angebote sowie die Selbstverwirklichungs-Literatur- und Kulturszenerie können sich neben gelegentlichen und echten Erfolgen oft nicht der Vereinnahmung und Pervertierung durch Kommerzialisierung entziehen. Was als gute Idee für gelingendes Leben einst startete, wird oft und schnell zur narzisstischen und blasenhaften Inszenierung und zur Singularität auf Teufel komm raus (auch im Medienbetrieb). Alles in allem also sehr dominierende und äußerst fragwürdige Vorbilder, Muster, »Werte« und Charakteristiken des modernen Kapitalismus. Gegenüber denen die Versuche von Gemeinschaftspflege à la Vesperkirche oder sonstiges soziales und humanes Engagement von Umwelt oder Sozialbewegungen, auch vielerlei ehrenamtliches Tun, eher verblassen oder als Feigenblatt erscheinen.

Mir scheint eine solche Art von Tiefenschau zeitlos nötig und sinnvoll. Viele andere fatale Effekte und das Spiel hinter dem Spiel unserer Erregungsgesellschaft bleiben zudem meist unterbelichtet und somit auch die Auswirkungen auf Stimmung, Psyche, Geist, (Wahl)Verhalten und Freiheit(seinschränkung) des Individuums. Dies ist damit auch eine deutlich andere Intention zur Beachtung innerer Phänomene und Prozesse einer Gesellschaft, als die von US-Vize Vance vorgetragene.

 

Konrad Gutzeit-Löhr, Reutlingen