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Aktuell Leserbrief

»Kennzeichen unserer übererregten Gesellschaft«

Forderungen an die Politik (per E-Mail)

Kommt ein Zeitgenosse an den Kiosk und verlangt nach einer Tageszeitung, die aber in jedem Fall die Wahrheit schreibe. Sagt der clevere Verkäufer: »Kann ich machen, sagen Sie mir dazu nur, welche Partei Sie wählen.« Nicht nur aus früheren Zeiten, als es noch explizite Parteizeitungen gab, ist so ein Ablauf gut vorstellbar.

Nein, gerade derzeit ist Sachlichkeit im Informationsgeschehen und Pluralitätsakzeptanz ein eher schwindendes Gut. Sind doch Kennzeichen unserer übererregten und gejagten Gesellschaft heutzutage vielmehr die Suche und Behauptung nach »klaren Lösungen« und ein intensiver Tunnelblick, das Bedürfnis nach Bestätigung in der eigenen Meinungsblase sowie Verzerren und maßloses Skandalisieren. Alles gipfelnd dann meist in egoistischen Forderungen an »die Politik«.

Insofern fiel in der durchaus guten Rede von OB Keck bei der 1. Mai-Kundgebung der Gewerkschaften auf, dass auch er einen 5-Punkte-Plan an (Finanz)Forderungen an Bund und Länder richtete. Dies mag nun durchaus berechtigt sein, es wäre nur schön und wohl auch sachgerechter gewesen, wenn wenigstens ein Hauch von Eigenanstrengungen oder gar das Einräumen von Ineffizienzen des kommunalen Lagers selbst mit genannt worden wäre.

Forderungsweltmeister, natürlich auch wieder ohne jede Selbstkritik und Benennung von Eigenanstrengungen und mit einer fatalen Mixtur aus Untergangsgejammer und Drohgebärden zugleich, ist nicht nur derzeit jedoch das Wirtschafts- und Unternehmerlager. Fast täglich Schlagzeilen der IHK oder von Bundesvereinigungen wie: »Keine weiteren Belastungen«, »Sondervermögen muss auch bei uns ankommen« et cetera (alle in GEA-Ausgaben der letzten Tage).

Am 3. Mai machten viele Tageszeitungen mit großen Berichten und Kommentaren zum Tag der »internationalen Pressefreiheit« auf; der GEA auf der Titelseite mit Bild und der Zeile »Freie Presse unter Druck«. Fraglos ist dies ein wichtiges Anliegen und es besteht auch aktuelle Bedrohung dieses Pfeilers der Demokratie, insbesondere durch (sogenannte) Soziale Medien.

Im Kommentar von Miriam Steinrücken demzufolge dann auch die Thesen, dass plakativ und in der Hoffnung auf Klicks die Sozialen Medien die öffentliche Meinung dominieren, radikale Kräfte überproportional Gehör finden und moderate Haltungen übertönt werden, hinzu käme dann noch der wirtschaftliche Druck für die Zeitungshäuser. Dann aber auch hier wieder nur die Forderung nach finanzieller staatlicher Unterstützung. Jedoch keinerlei eigene Ideen oder die Einräumung von Versäumnisse in den Redaktionsstuben und Eigentümerkreisen selbst.

Dass dies auch anders geht und die Verlage auch eine Rolle zur Problemlösung selbst spielen könnten, zeigt der Kommentar zum selben Anlass in der Frankfurter Rundschau unter anderem mit der Aussage »zweifellos haben Medien dabei vielfach versagt«, eine wichtige und mutige Selbstkritik.

Und überhaupt zum Kommentar-Un-wesen, auch im GEA: Meine Hitliste von Anmerkungen bei dieser Spalte besteht oft aus folgenden Kurzformeln: altbekannt und wenig Neuigkeitswert, gewagte Spekulation und verwegener Zusammenhang, starke Detailüberhöhung oder krampfhafte individuelle Gesichtspunkteerfindung, spöttischer Motzertenor und Raufhändelmentalität und andere Delikatessen mehr.

Dies ist nicht persönlich und verletzend gemeint, jedoch könnten sich viele Schreiberinnen und Schreiber insofern betroffen sehen und fragen, ob sie mit solchem Stil und diesen Methoden nicht annähernd dasselbe Spiel spielen, welches sie andererseits bei den Sozialen Medien zurecht so gefährlich finden.

 

Konrad Gutzeit-Löhr, Reutlingen