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Aktuell Leserbrief

»Kein Neid, nur zukunftsfähige Gleichbehandlung«

Zu »Mit dem Schlimmsten ist zu rechnen« und »Experten: Vermögen für Pflege nutzen« vom 22. Oktober (per E-Mail)

Es ist immer wieder erstaunlich, auf welche Ideen unsere Experten kommen, um die Finanzlöcher jeglicher Art zu stopfen, in diesem Fall die Kosten der Pflegeversicherung: Nun soll das bisher geschützte Guthaben des Mittelstandes im Alter für deren Pflege als »treffsicheres« Vermögen für die Kosten eines Heimplatzes eingesetzt werden. Haushalte über 66 Jahre haben 320.000 Euro im Schnitt Nettovermögen, so zitiert der GEA am 22. Oktober, Seite 1. Damit können diese die Heimpflege selber zahlen und der bisherige pauschale Leistungszuschlag des Staates könne fallen, so der Vorschlag! Welch ein Vorstoß des Verbandes der privaten Krankenkassen und des Institutes für Wirtschaft!

Aber hätte man von ihnen etwas anderes erwarten können? Wenn ich mir den Begriff Experten anschaue, eigentlich schon. Als ich, als junger Mann, in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts bei der Polizei meine Ausbildung zum gehobenen Dienst machte, tauchte in verschiedenen Fächern immer wieder die Frage auf, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben werden und dass in der Zukunft sehr viele alte Menschen viel weniger jungen Menschen, die noch im Arbeitsprozess sind, gegenüberstehen werden. Da gab es Berechnungen, die uns damals sehr erschreckt haben, aber für uns »kleine« Polizisten war das weit weg. Aber wo waren da die Vertreter von Politik und Wirtschaft, die die Experten zu diesen Prognosen befragt hätten, welche Ideen gab es, um den absehbaren Problemen entgegen zu wirken? Gut, damals florierte und wuchs die Wirtschaft der Bundesrepublik, also stellte sich die Frage nach knappen Ressourcen für Soziales so nicht. Aber auch schon damals gab es den Begriff: Grenzen des Wachstums vom Club of Rom. Also die Frage wäre nicht ganz aus der Welt gefallen gewesen, hätte man sich schon damals Gedanken gemacht, wie kann Soziales am Anfang des Lebens in der Erziehung und am Ende des Lebens eines Menschen in der Pflege aufgefangen werden? Denn gerade diese Frage stellt sich in einer Gesellschaft, die auf Chancengleichheit ausgerichtet ist: Mann und Frau sollen gleichberechtigt in den Arbeitsprozess einbezogen werden. Aus der sozial sorgenden Großfamilie wird berechtigterweise die kleine »Kernfamilie«, die aber dann die Unterstützung der Politik und der Wirtschaft in diesen beiden Bereichen bräuchte. Für Antworten dazu reicht ein Blick in die Realität von heute.

Und nun kommen die »Experten« mit dem Vorschlag, nehmen wir dem Mittelstand sein Lebenswerk ab! Politisch und sozial durchdacht?

Zwei Gedanken dazu: Hat erstens die Wirtschaft mal wieder die Meinungsführerschaft für die Politik übernommen, das Volk auf notwendige, treffsichere Maßnahmen vorzubereiten? Denn das sich dieser Gedanke »gut anhört« und eine Lösung verspricht, ist doch klar, dann muss er nur oft genug wiederholt werden, um ihn auch politisch durchsetzbar zu machen. Und wieso ist es zweitens so, dass an das Vermögen des Mittelstandes als Verfügungsmasse herangegangen werden kann. Aber wenn genau diese Mitte der Gesellschaft die Frage nach einer zum Beispiel wirkungsvollen Vermögenssteuer der Reichen aufwirft, sofort von »Neid-Debatte« die Rede ist? Aber für diesen Teil der Gesellschaft gibt es ja eine Partei, die sich einsetzt. Gerade mal wieder zu erleben, wenn am 12. November die Verhandlung zur Aussetzung des Soli für die oberen zehn Prozent der Einkommen in Karlsruhe verhandelt wird. Und wo ist die Partei, die sich für den die Gesellschaft tragenden Mittelstand einsetzt, in einer Zeit der digitalen Transformation der sozialen Gesellschaft? Wäre da nicht ein Profil für die anderen Altparteien angesichts der Bundestagswahl?

 

Rainer Jochens, Pfullingen