Ich stimme Herrn Sauer zu: Putin vergleicht den Krieg in der Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg, behauptet, dass in der Ukraine russische Werte und Traditionen wie damals verteidigt werden und das nennt man zurecht Verbiegen der Geschichte.
Aber leider wird auch im Westen und im Kommentar die Wahrheit verbogen. Herr Sauer will glauben machen, dass eine ukrainische Einheit, und zwar die 5. Gardearmee der 1. Ukrainischen Front und damit Ukrainer in Torgau, auf die US-Truppen trafen. Richtig ist hierbei nur der Name der Einheit. Das Propagandamärchen, dass diese Einheit eine ukrainische gewesen sei, die auch Auschwitz befreit hat, geht auf den polnischen Außenminister Schetyna zurück, der damit die Rolle Russlands im Krieg gegen Nazideutschland relativieren wollte.
Tatsächlich war sie Teil der Roten Armee und in ihr dienten eben nicht hauptsächlich Ukrainer, sondern Russen, Belarussen, Tschetschenen, Tataren, Georgier und eben auch Ukrainer. »Herr Schetyna wollte um jeden Preis den Russen nur an den Karren fahren ...«, so Andrzej Szepttycky, Ukraine-Experte der Universität Warschau (vergleiche Deutschlandfunk vom 26. Januar 2015, Gedenkfeier in Auschwitz ohne Putin). Ursprünglich hieß die Einheit Woronescher Front, war eine Hauptformation (Heeresgruppe) der Roten Armee. Sie wurde schlicht umbenannt, als sie die Gebiete der Ukraine erreichten und zurückeroberten.
27 Millionen Sowjetbürger fielen dem monströsen Verbrechen des NS-Regimes zum Opfer, vor allem Millionen Russen, Ukrainer, Belarussen. Beide Kriege, der Angriff auf Russland 1941 und der Angriff 2022 auf die Ukraine durch Russland haben nichts miteinander zu tun, da muss man Gegenwart und Historie trennen, das tun aus Propagandagründen wir nicht und Putin tut es auch nicht.
Die Verbrechen der Nazizeit sind singulär, so wie wir uns gegenüber den Juden durch monströse Verbrechen schuldig gemacht haben, so haben wir uns auch gegenüber allen Völkern der Sowjetunion schuldig gemacht. 13 Millionen Soldaten sind gefallen, und da hat Putin auch historisch Recht, die UdSSR hat die Hauptlast im Kampf und somit zum Sieg gegen Nazideutschland getragen. Schließlich erfolgte die Landung in der Normandie leider erst 1944, erst dann wurde Westfront nach der Kapitulation Frankreichs 1940 eröffnet.
Das Gedenken muss alle Völker Europas umfassen, die überfallen wurden, auch alle Völker, die in der Sowjetunion Opfer geworden sind, auch die Russen – das zu ignorieren, ist eine Schande. Die deutsche Schuld gegenüber Russland oder Belarus wird schließlich durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands von heute mitnichten geringer oder gar relativiert.
Ich möchte deswegen den Historiker Michael Wolffsohn im Interview mit der »Welt« am 8. Mai 2025 zitieren: »Es ist eine skandalöse Pietätlosigkeit, Russland und Belarus zu den Gedenkveranstaltungen nicht einzuladen. Damit werden historische Tatsachen umgedreht (...). Tatsache ist, dass die UdSSR 1941 von Hitlerdeutschland angegriffen wurde, dass sie einen hohen Blutzoll gezahlt hat (...). Wir gedenken der Vergangenheit und da hat das politische Gegenwartsspiel nichts zu suchen (...).«
Es gibt daher auch keine Berechtigung, Kriegsdenkmäler zu entfernen, die an diese historische Schuld gegenüber der Sowjetunion erinnern, auch das eine Pietätlosigkeit gegenüber den gefallenen Soldaten und den 14 Millionen zivilen Opfern in der Sowjetunion. Ich hoffe nicht, das wir irgendwann anfangen, Denkmäler zum Holocaust zu entfernen, wenn Israels in Teilen rechtsradikale Regierung sich gegenüber den Palästinensern schuldig macht. Wenn ich mich an Höckes Zitat vom Denkmal der Schande erinnere, ist auch das nicht unmöglich.
Patrick Differt, Eningen