Logo
Aktuell Leserbrief

»Hörgeschädigte in zwei Gruppen«

Zum Artikel »Mit Händen reden, mit Augen hören« vom 4. Januar (per E-Mail)

Über den Artikel zur Inklusion von hörgeschädigten Menschen habe ich mich sehr gefreut. Barrierefreiheit ist ein hohes Gut und Gebärdendolmetscherinnen und -dolmetscher sind ein absolutes Muss für gebärdensprachlich orientierte hörgeschädigte Menschen. Gar keine Frage!

Leider passiert es aber viel zu oft, wie auch in diesem Artikel, dass von »hörgeschädigten Menschen« die Rede ist, ohne zwischen denen zu unterscheiden, die gehörlos und daher meist gebärdensprachlich orientiert sind, und schwerhörigen Menschen, die in den seltensten Fällen Gebärdensprache beherrschen.

Von den circa 16 Millionen Schwerhörigen (circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung!), waren weniger als ein Prozent schon im Kindes- und Jugendalter schwerhörig. Die restlichen, mehr als 99 Prozent wurden erst im Erwachsenenalter schwerhörig, die allermeisten erst nach Eintritt ins Rentenalter. Diese Menschen können nicht gebärden! Und selbst bei den Frühschwerhörigen trifft dies nur auf einen Teil zu. Und dieser Teil kann meist auch nur lautsprachbegleitende Gebärden und nicht die Deutsche Gebärdensprache, welche eine völlig andere Grammatik hat als unsere Lautsprache. Sicher, es gibt »Grenzgängerinnen und Grenzgänger«, wie Frau Rein, die beides beherrschen und sich meist der gebärdensprachlichen Kultur zugewandt haben. Hut ab! Diese Menschen sind aber im Schwerhörigen-Bereich die großen Ausnahmen.

Schwerhörige Menschen brauchen ganz andere Hilfen, die ihnen aber oft versagt werden, mit der Bemerkung, man habe ja schon für Gebärdendolmetscher gesorgt. Diesen Anschein erweckt leider auch Ihr Artikel. Nun hat unsere Stadthalle sogar eine (meist!) funktionierende Induktionsschleife. Es wäre schön gewesen, wenn dies in dem Artikel wenigstens am Rande kurz erwähnt worden wäre. Und die meisten Schwerhörigen würden sich auch über Schriftdolmetscher freuen, die das Gesprochene simultan verschriftlichen, damit es mitgelesen werden kann. Denn bei Veranstaltungen, die länger dauern und komplexe Inhalte vermitteln, geht auch schon mittelgradig Schwerhörigen bald die »Puste aus«, weil zuhören für sie unvergleichlich anstrengender ist als für Guthörende – auch mit einer guten Höranlage.

Für Gehörlose wiederum sind Schriftdolmetscherinnen und -dolmetscher da-gegen keine Option. Durch die ganz andere Grammatik der Gebärdensprache ist es für sie meist extrem schwer, geschriebene Sprache schnell zu erfassen. Sie ist für sie schließlich eine Fremdsprache. Wenn wir daher von Inklusion für »hörgeschädigte Menschen« sprechen wollen, wie es dieser GEA-Artikel für sich in Anspruch genommen hat, dann brauchen wir Unterstützung für beide Gruppen von Hörgeschädigten: Gebärdensprachdolmetscher für gebärdensprachkompetente Menschen und Schriftdolmetscher und (induktive) Höranlagen für lautsprachlich orientierte Menschen.

 

Pfarrerin Rosemarie Muth, Evangelische Schwerhörigenseelsorge in Württemberg, Reutlingen