Es ist nun über ein Jahr her, dass die Hamas aus dem Gazastreifen heraus Israel überfallen hat, einen schrecklichen Massenmord verübt hat und immer noch viele Geiseln in ihrer Gewalt hält. Das jüdische Volk hatte aus dem Holocaust die Lehre gezogen, nie wieder nur ohnmächtiges Opfer sein zu wollen und so ist es verständlich, dass bei vielen Menschen in Israel das durch die grausame Tat entstandene Gefühl der Ohnmacht in den Wunsch nach Rache umgeschlagen ist.
Selbstverteidigung und Rache sind aber nicht das Gleiche und wir sollten diese Rache nicht von deutscher Seite aus unterstützen. Denn können wir es noch Selbstverteidigung nennen, wenn der Libanon angegriffen wird und über eine Million Menschen zur Flucht gezwungen werden; wenn das Hauptquartier der UN-Mission beschossen und Blauhelme verletzt werden; wenn libanesische Rettungssanitäter in Ausübung ihrer Tätigkeit getötet und Flüchtlinge umgebracht werden? So wurde am 9. Oktober in Wardaniyeh, einem Dorf nahe Beirut, die Begegnungsstätte Dar Assalam von israelischen Raketen getroffen. 87 Flüchtlinge hatten in diesem »Haus des Friedens« Schutz gefunden, sechs davon starben. Ich selber habe schon auf einer Libanonreise in dieser absolut friedlichen Begegnungsstätte übernachtet.
Nun hat Bundeskanzler Scholz also ankündigt, mehr Waffen an eine in Teilen rechtsradikale Regierung zu liefern, die immer offener den Traum von einem Großisrael ohne Palästinenser träumt. Ich fürchte, dass uns eines Tages bewusst werden wird, dass wir durch solche Waffenlieferungen nicht die deutsche Schuld des Holocaust tilgen konnten, sondern uns nur an weiterem Leid, diesmal auf palästinensischer und arabischer Seite, mitschuldig gemacht haben. »Nie wieder ist jetzt!« muss sich auf alle Völker beziehen. Eine einseitige maximale Sicherheit, die nicht auch das Lebensrecht des Feindes mit einschließt, kann nur mit maximaler Gewalt aufrechterhalten werden.
Leider haben sich viele auf der palästinensischen Seite für den Weg der Gewalt entschieden, um gegen das Unrecht seit der Flucht und Vertreibung 1948 zu kämpfen. Das Unrecht, wie es sich beispielsweise in der Besetzung des Westjordanlandes und in der Drangsalierung der dortigen Bevölkerung durch Militär und Siedler zeigt. Um nun die Palästinenser von Gewalt abzuhalten, setzt die israelische Führung darauf, dass Angriffe auf Israel mit jeweils noch größerer Brutalität beantwortet werden, um den Gegner vor weiteren Aggressionen abzuhalten. Dass dies nicht funktioniert, hat unter anderem der 7. Oktober 2023 gezeigt. Die Worte im 2. Buch Mose »du sollst geben ein Leben für ein Leben« dienten einmal dazu, ständig eskalierende Gewalt zu begrenzen. Davon ist nichts mehr übriggeblieben, wenn in Gaza und im Libanon Dutzende Leben für ein Leben gegeben werden. Die Gewalt kann doch nur enden, wenn Frieden mit Gerechtigkeit einhergeht und eine politische Lösung gefunden wird: sei es in einem einzigen Land mit gleichen Rechten für alle Bürger, einer Staatenföderation oder einer Zweistaatenlösung. Leider ist die Knesset von solch einer politischen Lösung komplett abgerückt.
Auf welcher Seite wollen wir nun stehen? Solidarisch auf der Seite Israels wie der baden-württembergischen Landtag – egal ob Kriegsverbrechen stattfinden und eine ganze Region an den Rand des Abgrunds gerät? Was tun wir, wenn aus früheren Tätern Opfer werden und aus früheren Opfern Täter? Letztlich ist doch wohl die einzige Seite, auf der man bedingungslos stehen sollte, die Seite des Völkerrechts, die Seite der Besonnenheit und Mäßigung.
Hermann Bizer, Wannweil