Dem GEA ist das journalistische Kunststück gelungen, denjenigen, der das Ende der Ampelkoalition bewusst inszeniert hat, als Opfer des Bruchs erscheinen zu lassen. Seit Langem spielt die FDP die Rolle der Opposition in der eigenen Regierung. Da werden Vereinbarungen nicht eingehalten, mitverhandelte und im Parlament und Bundesrat beschlossene Gesetze (Lieferkettengesetz, Tariftreuegesetz, Rentenreform) nachträglich sabotiert. Schließlich nach beinahe drei Jahren zentraler Mitverantwortung für die gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik des Koalitionsvertrages, wird ein Papier vorgelegt, das unter dem Titel »Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit« eine absolute Kehrtwende bedeutet.
Darin werden Forderungen erhoben, die Sozialdemokraten und Grüne nur als Provokation verstehen können: Klimaschutz soll beschnitten, Renten gekürzt, Bürgergeld eingedampft und die Ukraine-Hilfe zurückgefahren werden. Kurz: Bei den Sozialsystemen soll gespart und gleichzeitig soll den reichsten 10 Prozent im Lande der Soli-Steuer-Zuschlag erlassen werden. Dies war eigentlich ein Scheidungsdokument. So haben es alle, auch der GEA, gesehen.
Hinzu kamen die unablässigen Forderungen nach dem Ende der Ampelkoalition vom zweiten Strippenzieher der FDP, dem Vize-Parteivorsitzenden Wolfgang Kubicki. Auch Lindner sprach mit drohendem Unterton »vom Herbst der Entscheidung«! Klar war: Die FDP will raus aus der Ampel, entzieht sich der Verantwortung und schlägt sich in die Büsche. Seit den katastrophalen Wählergebnissen der FDP in den ostdeutschen Bundesländern arbeitet Lindner nur noch daran, den Absprung zu organisieren. Und zwei Tage nach dem Bruch lesen wir im GEA: »Was nach einem wütenden Kurzschluss des Kanzlers aussieht, ist womöglich ein geplanter Coup. Alles von langer Hand geplant?« Warum in aller Welt sollte der Kanzler geplant haben, seine eigene Koalition in die Luft zu sprengen?
Aber es kommt noch dreister. Zwei Tage vor dem Mittwoch der Entscheidung spricht Lindner als Festredner vor dem Bauindustrieverband Nordrhein-Westfalen. Er zieht, noch Minister der Finanzen, über die verfehlte Politik der Bundesregierung her, geißelt die Einwanderungspolitik, kritisiert scharf das Bürgergeld, regt sich über die überbordende Bürokratie auf und beklagt die höchste Steuer- und Abgaben-Quote in Deutschland. Schließlich macht er sich über seinen Ministerkollegen Robert Habeck als »Kinderbuchautor« lustig. Dies ist ganz im Sinne seines neuen Mentors: Friedrich Merz. Das »Lindner-Papier« hatte die CDU/CSU-Opposition heftig beklatscht und Merz merkte an, das Papier sei in weiten Passagen von CDU/CSU-Anträgen im Bundestag abgeschrieben. Lindner aber schwadronierte, dass er das Finanzministerium in einer anderen Regierung übernehmen wolle. Gemach, gemach! Schon im Altertum schätzte man den Verrat, wenn er einem nützte, den Verräter aber schätzte man weniger! Auch werden sich alle Alt-Parteien daran erinnern, dass die FDP noch nie ein verlässlicher Regierungspartner gewesen ist. Bereits 1964 sind die FDP-Minister geschlossen aus der schwarz-gelben Regierung ausgestiegen und haben damit den CDU-Bundeskanzler Erhard gestürzt. 1972 hat der damalige FDP-Finanzminister Otto Graf Lambsdorff mit einem ähnlichen Papier den Bruch der sozialliberalen Koalition eingeleitet und den SPD-Kanzler Helmut Schmidt gestürzt. Die FDP ist damals zur CDU/CSU übergelaufen. 2017 sondierte die FDP mit der Union und den Grünen eine »Jamaika-Koalition«. In der entscheidenden Nacht lässt Lindner unvermittelt »Jamaika« platzen mit den Worten, »es ist besser nicht zu regieren als falsch zu regieren!« Und nun wiederholt sich der Vertrauensbruch erneut. Mit der FDP ist im wahrsten Sinne »kein Staat zu machen!«.
Dieter Mutschler, Reutlingen