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Aktuell Leserbrief

»Einstellungen sind tief in den Köpfen verankert«

Zum Kommentar »Lasst die Richter ihre Arbeit machen« vom 3. Mai (per E-Mail)

Aufgrund der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland dafür, dass Auschwitz nie wieder möglich sein soll, gibt es gute Gründe, wie Jonathan Lindenmaier hervorhebt, ein Parteiverbotsverfahren gegen die rechtsextreme AfD anzustreben. Man täusche sich aber nicht: Demokratiefeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland können durch ein Verbot der vom Bundesamt für Verfassungsschutz zurecht als rechtsextremistisch eingestuften AfD allein nicht bekämpft werden.

Selbst wenn ein sich mehrere Jahre hinziehendes Verbotsverfahren Erfolg hat und die AfD keine staatlichen Gelder mehr erhält, verschwinden die in der Mitte der Gesellschaft verbreiteten menschenfeindlichen und antidemokratischen Einstellungen und Narrative nicht plötzlich. Diese sind bei zu vielen Bürgerinnen und Bürgern emotional vielfach tief verankert. Hier spielen überlagernde Krisenphänomene eine entscheidende Rolle, für die »Retrotopien« (Zygmunt Bauman) als Lösungen präsentiert werden, rückwärtsgewandte Utopien von schönen »alten« Zeiten, die es de facto nie gegeben hat. Trumps »Make America Great Again« (MAGA) lässt grüßen.

»Kulturkampf von rechts« existiert nicht nur in den USA. Dieser wird in der Bundesrepublik Deutschland seit gut einem Jahrzehnt ebenfalls betrieben, nicht nur von der AfD, sondern auch von Politikerinnen und Politikern der CDU/CSU, flankiert von rechtskonservativen Medien.

Dem »Kulturkampf von rechts« ist auf mindestens drei Politikfeldern zu begegnen: kommunalpolitisch, sozialpolitisch und bildungspolitisch. Kommunalpolitisch durch Verbesserung einer funktionierenden Infrastruktur, Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements vor Ort und von politischen Partizipationsmöglichkeiten, was Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht und das Vertrauen in den Staat stärkt. Dieses ist beispielsweise durch die Leipziger Autoritarismus Studie 2024 nachgewiesen.

Genauso: Ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit, bedingt durch zu viele Jahre Austeritätspolitik, führt zu einem Anstieg gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (unter anderem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Antisemitismus), wie die Rechtsextremismus-Studien von Andreas Heitmeyer zeigen. Sozialpolitisch hat die SPD in der schwarz-roten Koalition die Pflicht, neoliberalen Plänen von CDU/CSU zur Aushöhlung des Sozialstaats einen Riegel vorzuschieben.

Bildungspolitisch bedarf es insbesondere der Förderung der politischen Bildung in den Schulen und in der Lehreraus- und -fortbildung. Auf Länderebene von Bedeutung sind auch die Landeszentralen für politische Bildung, welche die AfD schließen will. Diese Institutionen leisten einen wichtigen Beitrag zu Demokratiebildung, zum Beispiel bietet die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg produktive Unterstützungsangebote für Schulen zur demokratischen Schulentwicklung an.

Im digitalen Zeitalter gilt es zudem, in den Bildungseinrichtungen die Medienreflexionskompetenz mehr zu fokussieren. Die Fähigkeit, die Funktion von Medien kritisch zu analysieren und deren Instrumentalisierung zur Verbreitung menschenfeindlicher und antidemokratischer Narrative aufzudecken, ist für mündige Bürger unabdingbar. Das gilt auch für die Medien selbst.

Durch die Förderung einer auf politische Partizipation ausgerichteten Kommunalpolitik, einer auf die Reduzierung sozialer Ungleichheit abzielenden Sozialpolitik sowie einer Bildungspolitik mit klarer Werteorientierung (Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Humanität) können demokratische und solidarische Haltungen auf Seiten der Bürger und in der medialen Öffentlichkeit (wieder) deutlich mehr an Attraktivität gewinnen.

 

Dr. Marcel Remme, Tübingen