Ich wohne seit mehr als vierzig Jahren in Reutlingen. Meine Kinder, Jahrgang 1982 und 1987, sind hier aufgewachsen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren sah ich mich ebenfalls vor die Herausforderung gestellt, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Die Betreuungszeiten in Kindergärten waren nicht auf Berufs-tätigkeit von Müttern eingestellt, ohne ergänzende Betreuung mit Hilfe von Tagesmüttern, selbst gegründeten Fördervereinen an Grundschulen, und ein Netz von Freunden ging es nicht.
Ich weiß sehr genau um den Spagat zwischen Öffnungszeiten, kurzen Wegen zum Job, Verfügbarkeit eines Autos und eines Back-up, wenn die Kinder krank waren. Und das alles für sehr kleines Geld, das nach Bezahlung aller Kosten in meinem Geldbeutel übrig blieb. Aber wenigstens waren die Betreuungskosten insbesondere im Kindergarten damals noch moderat und bezahlbar. Gleichwohl haben die Mehrzahl meiner Freundinnen und Freunde mich oft belächelt mit dem Hinweis, das lohnt sich doch nicht, warum tust du dir das an!
Und natürlich hat es sich gelohnt: für mich, für die Gesellschaft, für meine Arbeitgeber. Ich habe 40 Jahre Steuern bezahlt, Beiträge in Sozialversicherungssysteme und Rentenkasse eingezahlt. Und kann mich heute über eine auskömmliche Rente freuen.
Heute, mehr als 35 Jahre später, stelle ich jedoch fest, dass alles, was wir uns mühsam an dieser Front erkämpft haben, offenbar stecken geblieben, wenn nicht sogar rückwärts gelaufen ist. Die Betreuungszeiten sind heute noch weniger mit Jobs kompatibel, absolut unzuverlässig und die Betreuung selbst zudem exorbitant teuer geworden. Es scheint geradezu, als wollte man Mütter (und sicherlich manchmal auch Väter) wieder am besten an Heim und Herd halten, damit kein Betreuungsaufwand entsteht. Denn es ist mehr denn je ein Eiertanz, alles unter einen Hut zu bekommen, den sich viele Familien nicht antun wollen. Und viele können es bei Betreuungskosten, die in Höhe einer zweiten Monatsmiete daherkommen auch gar nicht mehr, selbst wenn sie wollten.
Der faule Kompromiss, der dann manchmal notgedrungen noch entsteht, ist, das Kind nur wenige Stunden in die Betreuung zu schicken, um Kosten zu sparen. Oder aber junge Mütter/Väter sind erst mal über mehrere Jahre gleich gar nicht berufstätig. Das entwertet ihre berufliche Qualifikation, und drängt sie in die Teilzeitfalle.
Die Gesellschaft verzichtet damit über Jahre (und oft auch für immer) auf gut ausgebildetes Personal, Steuereinnahmen, Zahlungen in Sozialsysteme und Rentenkasse in großem Stil. Altersarmut für denjenigen, der zurücksteckt, ist vorprogrammiert. Alles Dinge, die wir derzeit so sehr bemängeln. In Reutlingen ist man jedoch offensichtlich froh, wenn lieber weniger Familien Betreuung in Anspruch nehmen. Das lässt sich über hohe Preise gut regeln. Eine Milchmädchenrechnung, denn hohe Betreuungskosten machen eine Stadt ebenso unattraktiv wie hohe Mieten. Und eine noch größere Milchmädchenrechnung für die Gesellschaft.
Susann Schöll, Reutlingen