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Aktuell Leserbrief

»Eine Illusion, die in der Realität nicht standhält«

Zum Artikel »Kampf für niedrigere Kita-Gebühren« vom 5. März (per E-Mail)

Es gibt Veranstaltungen, bei denen man seinen Augen und Ohren nicht trauen möchte. So erging es uns bei vergangenen öffentlichen Gemeinderatssitzung. In der Einwohnerfragestunde um 18.30 Uhr wurde die Petition der WiR-Fraktion an den Oberbürgermeister übergeben. Innerhalb weniger Tage wurden über 1.800 Unterschriften gesammelt, die meisten davon aus Reutlingen. Drei Fragen wurden von uns an unseren Oberbürgermeister gerichtet, der jedoch nur auf »TOP 10« der Tagesordnung verwies, wo die Fragen erst vier Stunden später nur teilweise und unbefriedigend beantwortet wurden.

Unser Oberbürgermeister, der 2019 in seinem Wahlkampf als Unterstützer der SPD-Landesinitiative »Kita-Gebühren abschaffen« angetreten ist, versprach, die Reutlinger Eltern trotz damals schon angespannter Haushaltslage zu entlasten und wurde womöglich genau deswegen von zahlreichen Eltern gewählt. Er übergab jedoch das Wort direkt an unseren Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn.

Die Kritik am WiR-Antrag war groß. Es hieß, der Antrag sei nach rechtlicher Einschätzung der Verwaltung »nicht gesetzeskonform«, da keine Gebührenstaffelung nach Einkommen vorgesehen sei. Ein Blick in unsere Landeshauptstadt zeigt jedoch, dass es dort ebenfalls nur zwei Stufen gibt, ähnlich wie im Antrag der WiR-Fraktion. Eine aktuelle Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zu bundesweiten Elternentgelten zeigt, dass ganze Bundesländer wie das Saarland, Schleswig-Holstein und Hessen keine einkommensgestaffelten Gebühren anwenden. Nach der offiziellen rechtlichen Einschätzung der Verwaltung wäre demnach unsere Landeshauptstadt und wären diese Bundesländer gesetzeswidrig unterwegs?! Inoffiziell hat man sich seitens der Verwaltung in Elterngesprächen allerdings auch schon anders geäußert.

Unabhängig von der gesetzlichen Lage teilt die Mehrheit der Fraktionen die Auffassung, dass alles andere als eine einkommensabhängige Staffelung nicht sozial gerecht wäre. Hätten sie mit der WiR-Fraktion gesprochen beziehungsweise hätte die Verwaltung die im Antrag vorgesehene »Härtefallregelung« auf mehrfaches Nachfragen, wer höher belastet wird und nicht vom Staat Unterstützung erhält, aufbereitet, wäre schnell klar geworden, dass eigentlich niemand schlechtergestellt werden sollte als heute schon, und man gemeinsam bereit wäre, an einer sozial gestaffelten Lösung zu arbeiten.

Bei den 1.800 Unterzeichnern, von denen mehr als die Hälfte direkt betroffen ist, handelt es sich sicher nicht nur um Besserverdiener, wie von der ein oder anderen Fraktion immer wieder betont wird, fast schon, um ein »gewünschtes Feindbild auf Elternseite« zu schaffen.

Das neue Elternentgelt-System, das in Reutlingen seit dem 1. August 2023 parallel und ab dem 1. Oktober 2025 einheitlich angewendet wird, wurde 2022 von Verwaltung, Ratsmitgliedern und Elternvertretern entwickelt, um es sozial gerechter zu machen. Das war vielleicht so gedacht, die gelebte Praxis, geprägt vor allem durch die Vorwände der Verwaltung und kombiniert mit zu geringer Transparenz gegenüber den Stadträten, ist jedoch eine komplett andere. Das neue System als ausgewogen sozial gerecht zu bezeichnen, ist eine Illusion von sozialer Gerechtigkeit, die in der Realität nicht stand hält.

 

Sebastian Heinzelmann und Dr. Thomas Zebrowski, Reutlingen