Man stelle sich vor: Es gibt einen Paragrafen, der nur für Minister gemacht wurde. Doch ein Minister weigert sich, ihn zu befolgen. Er fordert, dass er geändert wird, und zwar so, dass er ihm passt. Und siehe da! Es funktioniert. Wo ist das geschehen? In einer Autokratie? Nein! Man will es nicht glauben, doch das ist eine wahre Geschichte aus dem Deutschland der Gegenwart. Im Jahr 2021 wurde das Klimaschutzgesetz verabschiedet. In ihm wurde jeder klimarelevante Sektor verpflichtet, jährlich eine bestimmte Menge CO2 einzusparen. Damit sollte Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen nachkommen. Ministerien, die zu wenig CO2 einsparen, müssen Vorschläge erarbeiten, wie sie ihr Ziel erreichen.
Trotzdem zeigt der Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) wenig Interesse an CO2-Einsparungen. Obwohl er sein CO2-Einsparziel nun zum zweiten Mal verfehlte, um 13 Millionen Tonnen, lehnt er umsetzbare Sparmaßnahmen ab, weil sie nichts brächten. Dazu gehört das vom Umweltbundesamt berechnete Tempolimit, mit dem 6,4 Millionen Tonnen eingespart werden könnten – die Hälfte von dem, was der Verkehrssektor überschreitet. Diese Maßnahme ist auch noch kostenlos und schnell umsetzbar. Zudem ist Deutschland das weltweit einzige Industrieland ohne allgemeines Tempolimit. Da die FDP darauf setzt, CO2-Einsparungen über den Preis zu erreichen (laut Homepage), könnte Wissing auch das Dienstwagenprivileg abschaffen. Mit dem Privileg werden schwere, schnelle, spritfressende Autos gefördert. Auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Steuerangleichung von Diesel an Benzin könnte er endlich umsetzen. Nicht nur die Bauern, auch Pkw-Fahrer könnten eine höhere Dieselsteuer zahlen. Doch statt endlich aktiv zu werden, verlangt Wissing eine Gesetzesänderung. Und weil die Grünen nicht mitspielen wollten, drohte er mit einem Sonntagsfahrverbot. Dann stünden die Grünen wieder als die Querulanten da, die für Verbote statt für eine gemeinsame Politik stehen. Dabei ist die Fahrverbotsandrohung ein Armutszeugnis, denn Fahrverbote wirken nur so lange, wie sie verhängt werden. Danach ist alles wie vorher.
Nachdem das Kabinett beschlossen hat, das Klimaschutzgesetz den Wünschen der FDP anzupassen, sollen nun die anderen Sektoren zusätzlich zu ihren Einsparverpflichtungen auch noch die Emissionen des Verkehrssektors stemmen. Was ist, wenn ihnen das nicht gelingt? Dann bricht Deutschland wieder mal seine internationalen Verpflichtungen. Das ist mehr als peinlich. Angesichts der seit Monaten steigenden Hitzerekorde ist das unverantwortlich. Es müsste so viel wie möglich an CO2 eingespart werden, nicht nur die vorgeschriebene Menge. In einer Demokratie darf es nicht möglich sein, dass sich eine Regierung Gesetze hinbiegt, wie es ihr gefällt zum Nachteil des Klimaschutzes und damit der Bevölkerung. Schließlich ist Klimaschutz nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof ein Menschenrecht.
Ulrike Selje, Reutlingen