Zu dem sehr interessanten Interview mit dem russischen Regimegegner Alexey Gresko, dass auch sehr unaufgeregt wertend einen kleinen Einblick über die Lage der russischen Bevölkerung gibt, habe ich den Gedanken, dass in letzter Zeit leider etwas zu wenig über die russische Bevölkerung berichtet und gelesen wird.
2018 war ich in Moskau und hatte im Hotel eine sehr hilfsbereite Angestellte kennengelernt. Ich hatte mir damals als Notfallnummer für unseren Trip im fremden Land ihre private Mobilnummer gespeichert. Als ich mich nun Mitte 2023 beim Messengerdienst Telegram angemeldet hatte, wurde mir ihr Account angezeigt und ich habe Kontakt mit Irena aufgenommen.
Sie hat sich mir, in der für sie sehr belastenden Situation, etwas anvertraut. Der Vater ihrer Tochter ist zum Militär eingezogen worden, er war mittlerweile auch an die Front in die Ukraine versetzt und zuletzt im Sommer 2023 hatten sie über den Zeitraum von drei Monaten keinerlei Kontakt zu ihm. Die Sorgen waren und sind immer groß. Die elfjährige Tochter hat im Oktober 2023 nach über 15 Monaten, aus Anlass eines einwöchigen Heimaturlaubs, wieder einmal ihren Vater gesehen, für sie zum Glück, wenn auch nur »offensichtlich«, gesund an Leib und Seele. In der Zeit, als der Kontakt total abgerissen ist, war Irena sehr verzweifelt und in Sorge, wie sie mit ihrer Tochter umgeht und ihr eventuell schlechte Nachrichten übermitteln muss. Irena hat unter Verwendung des Wortes Krieg klar Stellung genommen. Sie hat Mitgefühl mit allen vom Krieg geschundenen Menschen. Sie hat ukrainische Verwandte und ist darüber oft sehr verzweifelt, auch über die Situation in Russland, mit dem von ihr empfundenen Druck vor Repressalien, immer vorsichtig zu sein und aufpassen zu müssen, nichts »Falsches« zu kommunizieren.
Die Lebensumstände haben sich dort für sie sehr verändert, Irena war aufgrund ihrer Arbeit im Hotel einen weltoffenen Lebensstil gewohnt und leidet auch sehr an der im Ausland teilweise vorhandenen pauschalen negativen Einstellung gegenüber der russischen Bevölkerung. Jenseits jeglicher großen Politik und der gegenseitigen Aufrechnung von Leid und einer Vielzahl von dramatischen Einzelschicksalen, sollten wir bitte die russische Bevölkerung nicht vergessen und dazu nicht noch pauschal verurteilen und abstempeln.
Ralf Nagel, Sickenhausen