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Aktuell Leserbrief

»Begriff ›Humanität‹ taucht nur einmal auf«

Zum Kommentar »Deutschland mischt wieder mit« vom 10. April (per E-Mail)

Zurecht erkennt Oliver Jirosch in seinem Kommentar, dass den zukünftigen Koalitionspartnern noch die »wahren Probleme« bevorstehen. Es ist allerdings fraglich, ob die »Hauptleitlinien« des Koalitionsvertrags wirklich »stehen«. Der zentrale Satz des 144 Seiten und 4.588 Zeilen umfassenden Dokuments mit dem Titel »Verantwortung für Deutschland« lautet: »Die demokratischen Parteien der politischen Mitte tragen eine besondere Verantwortung für den Schutz und die Stärkung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.« 38 Mal findet sich das Wort »Verantwortung« oder dieses versehen mit einer Vorsilbe in dem Koalitionsvertrag.

Verantwortung ist ein Beziehungsbegriff. Es ist immer mindestens anzugeben, wer, wofür, weswegen verantwortlich ist. So könnte der Titel des Koalitionsvertrags für die 21. Legislaturperiode präzisiert werden zu: »Die Regierung ist verantwortlich für das Wohl Deutschlands aufgrund der Orientierung an den Werten und Gütern Wirtschaftswachstum, Soziale Marktwirtschaft, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, geeintes Europa und deutsche Einheit.« Im Unterschied zu anderen Werten taucht der Begriff »Humanität« im Dokument erstaunlicherweise explizit nur an einer Stelle auf, nämlich: »Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.«

Es ist bezeichnend für den Koalitionsvertrag: In den Abschnitten zur Asylpolitik von Schwarz-Rot, in denen sich deutliche Einschränkungen von Rechten von Schutzsuchenden bis hin zur Verweigerung des Rechtsbeistands bei Abschiebung finden, sucht man die Begriffe »Humanität« und »Menschenrechte« vergebens. Obwohl im Kapitel zur »verantwortungsvollen Außenpolitik« sich die Aussage findet: »Die Universalität, Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte bilden das Fundament der regelbasierten internationalen Weltordnung.« Dieser Universalismus der Menschenrechte wird aber nicht in Bezug zur Asylpolitik gesetzt.

Hieran zeigt sich das grundsätzliche Problem des schwarz-roten Koalitionsvertrags. Dieser ist nicht aus einem Guss, sondern besteht aus additiv zusammengeschusterten Plänen und Absichtsbekundungen der Koalitionspartner, die zudem vielfach noch unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Ethische Prinzipien und Werte, wenn sie denn, wie der Koalitionsvertrag behauptet, universelle Geltung besitzen sollen, können sich nicht nur auf einen Sektor der Politik beschränken. Diese haben für alle Felder der Politik zu gelten, denn sonst käme ihnen nur eine partikuläre Gültigkeit zu. Migrationspolitik, Entwicklungspolitik, Außenpolitik, auch Demokratiebildung und Förderung von Erinnerungskultur, wozu es zurecht im Koalitionsvertrag sinnvolle Vorschläge gibt, sind immer zusammenzudenken. Dieses wird die Hauptaufgabe der SPD in der Regierung sein, nämlich CDU und CSU bei der Orientierung an ethischen Prinzipien und Werten wie Humanität, Menschenwürde, Menschenrechten und historische Verantwortung immer wieder in die Pflicht zu nehmen.

 

Dr. Marcel Remme, Tübingen