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Aktuell Leserbrief

»Als Kanzler untauglich«

Zum Artikel »Stresstest für die Demokratie« vom 1. Februar (per E-Mail)

Welche Fähigkeiten sollte ein Kandidat, der Bundeskanzler und nicht König von Deutschland werden will, besitzen? Politische Kompetenzen, worunter unbedingte Verfassungstreue und Beachtung international vereinbarter rechtlicher Regelungen zählen. Ebenfalls gehört dazu die Fähigkeit, ein politisches Programm zur konstruktiven Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme zu entwickeln, sowie die Fähigkeit, sich von guten Argumenten leiten zu lassen. In einer Demokratie ist es unabdingbar, Kompromisse in demokratischen Prozessen auszuhandeln und die Folgen politischer Entscheidungen zu antizipieren. Selbstverständlich zählen dazu auch ein profundes Geschichtsbewusstsein und charakterliche Eignung, vom SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz auch »sittliche Reife« genannt.

Deren Fehlen beklagte er bekanntlich bei dem von ihm zurecht entlassenen FDP-Finanzminister und mehrfachen Foulspieler Christian Lindner. Die notwendige charakterliche Eignung eines Kandidaten für das Bundeskanzleramt kommt zum Ausdruck unter anderem an seiner Prinzipientreue, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Affektkontrolle, Selbstkritik und seiner Orientierung an ethischen Werten.

Dass CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der keine Regierungserfahrung besitzt, nicht über die notwendigen Kompetenzen eines Bundeskanzlers verfügt, hat er mit seinen Tabubrüchen am 29. und 31. Januar im Bundestag und seinem Umgang mit diesen in der Öffentlichkeit eindrücklich unter Beweis gestellt. Seine Äußerungen und sein Verhalten lassen sich als trumpistisch, populistisch, opportunistisch, menschen(rechts)feindlich, kompetenzüberschreitend und geschichtsvergessen charakterisieren. Umso kritikwürdiger ist es, dass Merz genau an dem Tag der Gedenkstunde des Bundestags zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz vor 80 Jahren seinen Entschließungsantrag und zwei Tage später seinen Gesetzesvorschlag eingebracht hat – unter bewusster Inkaufnahme der Zustimmung durch die in Teilen rechtsextreme AfD.

Ganz anders dagegen hat der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz gehandelt. Am 29. Januar wies er in seiner staatsmännischen, von differenziertem Geschichtsbewusstsein zeugenden Regierungserklärung im Bundestag auf die Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz als Antwort auf den Holocaust hin. Anlässlich einer Gedenkveranstaltung des Internationalen Auschwitz-Komitees am 23. Januar erinnerte er in seiner eindrücklichen Rede an die »bleibende Verantwortung der Deutschen« dafür, dass Ausschwitz nie wieder möglich sei. Deshalb formulierte der Sozialdemokrat den erinnerungsethischen Imperativ: »Nie wieder dürfen wir es zulassen, dass unsere Gesellschaft in ›wir‹ und ›die anderen‹ gespalten wird.« Für das Ausspielen sozialer Gruppen gegeneinander steht symptomatisch das antidemokratische Agieren der AfD.

Im Sprachstil der AfD hielt Merz seine Bundestagsreden und versuchte, die Notwendigkeit seines Gesetzesantrags zu begründen. Dabei folgte er dem menschenfeindlichen Narrativ der AfD, nach welchem Schutzsuchende per se eine potenzielle Gefahr für die Bundesrepublik darstellen. Darauf weist auch die Bezeichnung »Zustrombegrenzungsgesetz« für das von Merz eingebrachte Migrationsgesetz hin. Ein erneuter Beleg dafür, dass CDU/CSU bewusst Erkenntnisse international anerkannter Migrationsforschung ignorieren. Wer aus wahlkampftaktischen Gründen auf die AfD setzt und Rechtsstaatlichkeit, Humanität und historische Verantwortung mit Füßen tritt, ist für das Amt des Bundeskanzlers untauglich. Dessen oberste Handlungsmaxime sollte die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie sein.

 

Dr. Marcel Remme, Tübingen