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Tübinger Poetikdozentur: Schriftstellerin Nora Bossong über Fakten und Fiktionen

Die Schriftstellerin Nora Bossong macht sich im Rahmen der Tübinger Poetikdozentur Gedanken über die Bedeutung des Erzählens.

Nora Bossong im Tübinger Audimax.
Nora Bossong im Tübinger Audimax. Foto: Christoph B. Ströhle
Nora Bossong im Tübinger Audimax.
Foto: Christoph B. Ströhle

TÜBINGEN. Über Fakten und Fiktionen hat die 1982 in Bremen geborene, in Berlin lebende Schriftstellerin Nora Bossong am Donnerstagabend im Rahmen der Tübinger Poetikdozentur gesprochen. Und dabei den Blick auf das menschliche Grundbedürfnis nach Erinnern und Nichtvergessenwerden gelenkt. Beides sei Ausdruck und Gegenstand von Literatur.

Im Audimax der Universität sagte die Thomas-Mann-Preisträgerin von 2020: »Die ganz große Angst, die es gibt, ist die des Vergessenwerdens. Die, dass wir zwar jetzt sind - und irgendwann sind wir tot, vor diesem Gedanken können wir uns nicht verschließen -, aber dass die Erinnerung verblasst. Von uns selbst, von den Menschen, die uns nah waren, von den Menschen, von denen wir wünschen, dass sie in Erinnerung bleiben.« Mit der Literatur einen fast utopischen Ort zu haben, der aufbewahre, was ohne sie verloren gehen würde, was ohne sie vielleicht gar nicht anfinge zu leben in der Vorstellung, sei tröstlich. Die Fiktion könne zusammen mit den Fakten eine neue Welt erschaffen: eine Oase, die sich dem widersetze, was die Tragik unseres Seins sei - »dass wir leider irgendwann nicht mehr sind und verschwinden«.

Weg durchs Gestrüpp

Die Tübinger Germanistin Dorothee Kimmich hatte in ihrer kurzen Einführung von der narrativen Struktur alles Vergangenen gesprochen. Das nur dann überhaupt als Vergangenes für uns heute existiere, weil man es erzählen könne. »Romane helfen uns, im Gestrüpp von Fakten und Fiktionen nicht gleich die Nerven zu verlieren, sondern dem Weg der Erzählung zu folgen.«

Literatur, so führte Nora Bossong aus, die mit Romanen wie »Schutzzone« (über koloniale Schuld und globale Gerechtigkeit) und »Reichskanzlerplatz« (über den schleichenden Zerfall der Demokratie) in Erscheinung getreten ist, leiste Übersetzungsarbeit darin, dass sie Wirklichkeit in Fiktion hole und Fiktion umgekehrt wieder in Wirklichkeit bringe. »Sie übersetzt Fakten und Erzählung in Bilder, in gefundene und vor allem auch empfundene Figuren. Wir können nicht ohne Mehrdeutigkeit sprechen und erzählen, ohne von einer Erfahrungsform in eine andere, in eine anhaltendere, vermittelte übersetzt zu haben.« Ambivalenz und Interpretation lägen schon in jedem Satz, der geformt werde. »Und Sprache macht uns zu den Erfindern von Welt und Bedeutung.« Wobei der Leser Miterfinder sei. Im einen Kopf entstehe Literatur, im anderen setzte sich Welt wieder neu zusammen, gespeist aus den Erfahrungen des Lesers und seiner Biografie.

Träume und Ahnungen

Literatur sei aber auch eine Übersetzung dessen, »was wir beispielsweise träumen - etwas, was sich dem Faktischen ja komplett entzieht«. Nora Bossong äußerte die Überzeugung, »dass es so etwas wie eine tiefere Wahrheit gibt, der wir mit Literatur möglicherweise etwas näher kommen können, weil sie nicht nur unseren Verstand, sondern auch unsere Sinne anspricht. Eine Wahrheit, der wir uns suchend, träumend und ahnend, auch fürchtend und hoffend immer weiter nähern.« Das sei etwas ganz fundamental Anderes als ein politischer Diskurs. Der Roman lege seine Fiktionalität offen. Und mit diesem Offenlegen trete man hinein in eine Komplizenschaft zwischen dem Erfinden und dem Wiederfinden von Erinnerung, von Wünschen und Vorstellungskraft. Was Literatur zwischen ihren Fakten und Fiktionen mache, sei, gerade ins Trübe zu gehen. Dort zu suchen, vielleicht fündig zu werden, wo Dinge im hell Ausgeleuchteten nicht mehr sichtbar sind. (GEA)