Wenn sich der 61-Jährige an seine Zeit im früheren katholischen Kinderheim St. Josef in Ludwigsburg erinnert, sagt er mit ruhiger Stimme: »Das war das Brutalste.« Anfang der 1970er Jahre war er dort mit seiner Schwester untergebracht. »Ich wurde regelmäßig massiv geschlagen«, berichtet der Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Er gehört zu den zahlreichen ehemaligen Bewohnern, die gedemütigt, vernachlässigt oder sogar sexuell missbraucht worden sind. Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IBB) hat sie befragt und den Skandal in einer Studie aufgearbeitet.
Das Kinderheim wurde einst von Nonnen betrieben. Bei den Nonnen seien immer zuerst die Kirche und Gott im Vordergrund gestanden, »dann kamen wir«, sagt eine heute 53 Jahre alte betroffene Frau. Von 1960 bis 1990 habe es 30 Jahre institutionellen Machtmissbrauch gegeben, wie der Psychologe Florian Straus vom IBB bei der Vorstellung des Abschlussberichts am Mittwoch mitteilte. Es seien alle Formen von Gewalt dokumentiert, mit einer besonderen Variante extremer Lieblosigkeit.
Über die genaue Anzahl der Opfer konnten keine Angaben gemacht werden. Seit 1947 sollen etwa 1100 Kinder in der Einrichtung untergebracht gewesen sein. IBB-Soziologin Elisabeth Helming sagte, dass auch ein früherer katholischer Gemeindepriester mindestens drei junge Mädchen in den 1960er und 1970er Jahren sexuell missbraucht habe. Eine weltliche Erzieherin in dem Heim sei Komplizin des Priesters gewesen. »Sie führte ihm die Mädchen zu.« Später sei der Geistliche nach Guatemala versetzt worden. Der Mann ist inzwischen gestorben. Die Soziologin wies darauf hin, dass die Dunkelziffer bei dem Thema Missbrauch sicherlich höher sei.
Andere frühere Bewohner berichteten den Studienautoren, dass sie zum Essen gezwungen worden seien. Man habe stundenlang sitzen müssen. Andere erinnerten sich, dass sich die ganze Gruppe habe anstellen müssen, um nacheinander Prügel mit einem Handfeger zu erhalten. »Ohrfeigen waren an der Tagesordnung«, sagte Helming. Insgesamt wurden unter anderem 27 Interviews mit betroffenen ehemaligen Kindern - darunter 16 Frauen und elf Männer - geführt.
Das Josefsheim wurde mit einem Kloster 1930 erbaut und von den Schwestern des Karmelitinnen-Ordens geführt. Im Zweiten Weltkrieg diente die Einrichtung als Lazarett, danach wieder als Kinderheim. Mehrere dutzend Kinder waren dort in vier Gruppen untergebracht. 1992 wurde es geschlossen. Hintergrund war die Überalterung der Schwesternschaft. Außerdem gab es immer weniger Ordensfrauen.
Frühere Bewohner kritisierten das Verhalten des katholischen Ordens schwer. Er habe die Missbrauchsvorwürfe zunächst als Hirngespinste abgetan. Das Ausmaß der Misshandlung habe sie überrascht, sagte Schwester Edith Riedle, die Hausoberin der Karmelitinnen in Ludwigsburg. Die Vorgänge seien beschämend. »Wir als Ordensgemeinschaft haben Schuld auf uns geladen.«
Bis 1977 gab es nach Angaben der beiden Studienautoren gleichfalls eine Säuglings- und Kleinkindergruppe. Hier seien Kinder nachts in den Betten festgebunden worden, teilte Helming weiter mit. Möglicherweise seien sie auch mit Contergan ruhiggestellt worden. »Das war im Grunde eine Verwahrstation.« Es habe gravierende Vernachlässigungen gegeben. In der Gruppe waren bis zu 13 Säuglinge und Kleinkinder untergebracht. Zur damaligen Zeit hatte es noch keine Notaufnahmestationen für Säuglinge gegeben, die heute Standard sind.
Die Studie befasste sich auch mit der damaligen Rolle des Jugendamtes. Straus sagte: »Wir sehen eine Mitschuld der öffentlichen Jugendhilfe.« Sie habe versagt.
Institut für Praxisforschung und Projektberatung
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