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Wohnpioniere in der Neckarspinnerei bei Wendlingen

In einem ehemaligen Industriequartier bei Wendlingen überbrücken junge Leute die Zeit bis zum Winter.

Paul Vogt sitzt am Tresen vor der Gemeinschaftsküche in der Neckarspinnerei
Paul Vogt sitzt am Tresen vor der Gemeinschaftsküche in der Neckarspinnerei Foto: Frank Schwaibold
Paul Vogt sitzt am Tresen vor der Gemeinschaftsküche in der Neckarspinnerei
Foto: Frank Schwaibold

WENDLINGEN. Die großen Zeiten liegen lange zurück. Aber Fakt ist: Im Wendlinger Ortsteil Unterboihingen (Kreis Esslingen) wurde einst Industriegeschichte geschrieben. Angetrieben von der Wasserkraft des Neckars produzierte hier die Spinnerei Otto Textil von 1861 bis 2020 Garne für das ganze Land. Dann aber, so sagt es Frank Reiner von der HOS Projektentwicklung GmbH, »war Otto nicht mehr wettbewerbsfähig«.

Nicht nur die technische Ausrüstung war damals zukunftsweisend, das Leben in der historischen Neckarspinnerei war es ebenso. Autark in der Energieversorgung, mit eigener Kirche, Pfarrhaus und Betriebswohnungen konnten sich die Arbeitenden einen weiten Fußweg ersparen und stattdessen am Flussufer erholen.

Nun könnte das Quartier als eines von 29 Projekten der Internationalen Bauausstellung im Jahr 2027 (IBA‘27) auch in eine gute Zukunft geführt werden. Die denkmalgeschützten Gebäude sollen saniert werden und – ergänzt um Neubauten – erneut zu einem produktiven Stadtquartier entwickelt werden.

Ein Experiment im historischen Hochbau

Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. Wie diese Zeit sinnvoll überbrückt werden kann, zeigt der Verein Adapter mit einer experimentellen Zwischennutzung im historischen Spinnerei-Hochbau. Der Verein entwickelte dazu ein Modulsystem aus Holz und stattete damit eine Halle des Industriegebäudes mit temporären Wohnräumen aus. Paul Vogt, ein junger Architekt aus Stuttgart, wohnt selbst in einer der »Wohnboxen«. Wenn er seine Ruhe will, zieht er einfach eine Schiebetüre zu und ist allein. Wenn er Gesellschaft will, öffnete er die Schiebetür – und schon steht er mitten in der Industriehalle am großen Gemeinschaftstisch hinter der Küchenzeile. Seine Mitbewohnerin Victoria ist begeistert: »Das gibt mir ein gutes Wohngefühl«. Anders als in einer WG »betreten wir zunächst einmal den großen Gemeinschaftsraum und gehen erst dann in unsere Zimmer«.

Acht Studenten und Freiberufler haben sich derzeit in der Neckarspinnerei eingerichtet. Ganz einfach war es nicht, bis das Projekt der Wohnpioniere genehmigt wurde. Aber letztendlich gab das Landratsamt Esslingen seinen Segen, berichtet Vogt. Die Nutzungsgenehmigung gilt bis Ende 2025. Möglich wurde das Wohnexperiment, indem sich Adapter und die HOS als Projektpartner beim Verband Region Stuttgart für Fördermittel im Rahmen einer Kofinanzierung von innovativen IBA‘27-Projekten bewarben. Am Ende gab es einen Kooperationsvertrag und eine Vereinbarung, dass die beiden Partner die Fläche nutzen dürfen.

"Wohnraum in Ballungszentren ist knapp!" - Paul Vogt, Architekt und Adapter-Gründer"

Gefertigt werden die Wohnboxen mit sogenannten Endo-Holzelementen. Sie wurden vom Verein Adapter entwickelt und von einer Schreinerei aus Kornwestheim gefertigt. Ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer kostet samt beidseitigen Schiebetüren »bei dieser ersten Kleinserie« laut Vogt rund 25.000 Euro. Jeder Mieter zahlt im Monat 350 Euro. »Wohnraum in Ballungszentren ist knapp. Gleichzeitig stehen durch einen rapiden Wandel in der Arbeitswelt viele Gewerbeflächen leer«, weiß Vogt um das Problem. »Deshalb haben wir ein Konzept für die temporäre Umnutzung von Gewerbeflächen zu Wohnraum entwickelt«, so der 32-Jährige. Ziel sei es, »Leerstandskosten zu vermeiden und flexiblen Wohnraum zu schaffen«.

Ganz allein in dem riesigen Quartier sind die acht jungen Leute allerdings nicht. In einem weiteren Gebäude ist die Firma Batene zu Hause. Es ist eine Ausgründung der Max-Planck-Gesellschaft. Das Start-up ist 2023 als erster neuer Nutzer in die Neckarspinnerei eingezogen. In den historischen Fabrikhallen, in denen früher Baumwollfasern verarbeitet wurden, hat Batene einen Reinraum als Haus-in-Haus-System gebaut. Hier entwickelt das Unternehmen eine völlig neue Batterietechnologie, die auf einem Metallvlies basiert.

Wie es mit dem Wohnexperiment von Adapter weitergeht, ist offen. Seit Juli dieses Jahres wohnen die ersten Mieter in der Neckarspinnerei. Aber im Winter benötigen sie ein neues Quartier. Zwar lassen sich die einzelnen Wohnboxen beheizen. Um den Gemeinschaftsraum in der großen Fabrikhalle warm zu halten, wäre der finanzielle Aufwand jedoch viel zu teuer. Eine gesicherte Anschlussnutzung gibt es noch nicht. Doch Paul Vogt bleibt zuversichtlich, eine Lösung zu finden: »Wir sind in Gesprächen, wo es weitergehen kann. Über weitere Kontakte zu möglichen Anschluss-Immobilien freuen wir uns!«, schiebt er gleich noch eine Bewerbung hinterher. Denn die Wohnpioniere sind bei ihrem neuen Lebensmodell auf den Geschmack gekommen.

Der Verein Adapter

Der gemeinnützige Verein Adapter wurde 2019 gegründet. Im Neckarspinnerei Quartier (NQ) setzte er in diesem Sommer sein erstes Projekt um. Das Team besteht aus Architekten, Stadtplanern, Soziologen und Künstlern. Mit dem von Adapter entwickelten Endo-System wurde eine wiederverwendbare Lösung im Sinne der Reuse-Idee (Kreislaufwirtschaft) konzipiert. Das Holzbausystem lässt sich leicht auf- und abbauen. (fs)

Hier geht's rein: Historischer Gebäudeteil der Neckarspinnerei
Hier geht's rein: Historischer Gebäudeteil der Neckarspinnerei Foto: Frank Schwaibold
Hier geht's rein: Historischer Gebäudeteil der Neckarspinnerei
Foto: Frank Schwaibold
Großzügige Fläche: Eingangsbereich samt Garderobe
Großzügige Fläche: Eingangsbereich samt Garderobe Foto: Frank Schwaibold
Großzügige Fläche: Eingangsbereich samt Garderobe
Foto: Frank Schwaibold
Die Wohnbox von Paul Vogt in der Neckarspinnerei
Die Wohnbox von Paul Vogt in der Neckarspinnerei Foto: Frank Schwaibold
Die Wohnbox von Paul Vogt in der Neckarspinnerei
Foto: Frank Schwaibold
Das Badezimmer ist schlicht
Das Badezimmer ist schlicht Foto: Frank Schwaibold
Das Badezimmer ist schlicht
Foto: Frank Schwaibold
Verglaste Wohnungstüre
Verglaste Wohnungstüre Foto: Frank Schwaibold
Verglaste Wohnungstüre
Foto: Frank Schwaibold