STUTTGART. Würde man einen Film über die nahe Zukunft dieses Stuttgarter Baudenkmals drehen, dann wäre das ein schöner Titel: »Schicksalsjahre eines Opernhauses«. Stand aktueller Planungen wird sich der Umzug von Oper und Ballett in die Interimsspielstätte an den Wagenhallen bis 2032 verzögern. Acht Jahre, in denen das Publikum beim Betreten des Foyers befürchten muss, dass der zerschlissene blaue Teppich sich vollends unter seinen Schritten auflöst.
Hinter oder besser unter der Bühne wirft Nils Heggemann, der Betriebsingenieur der Staatstheater, seine Stirn in Falten. Er steht vor den Winden, die seit dem Jahr 1988 die Bühnenpodien und Versenkungen antreiben. »U-Boot-Bunker« nennen alle, die hier arbeiten, den Raum. So vollgepackt sieht er auch aus. Eine der hydraulischen Antriebswinden macht Kummer. »Wir können eine Leckage nicht reparieren, weil wir dafür einen Montagekran stellen und die Decke öffnen müssten«, erklärt Heggemann. Eine Ebene darüber, auf der ersten Unterbühne, steht zudem ein Schaltschrank im Weg. Also wird das Leck weiterhin mit Extra-Öl bekämpft.
»Alles, was ausgebaut wird, bleibt da, damitwir im Notfall Ersatz-teile haben«
2029 ist das Schicksalsjahr der Opernhaus-Bühnenmaschinerie. Eigentlich wollten die Staatstheater-Mitarbeiter dann neue, elektrisch betriebene Motoren in der Interimsspielstätte bedienen. Jetzt schaut Heggemann mit Sorge auf das Datum, an dem die nächste Sachverständigenprüfung der Druckanlage ansteht. Der Experte, der sie die letzten Male durchgeführt hat, wird dann im Ruhestand sein.
Veraltete Elektrik bringt Arbeitsaufwand
Im Ruhestand sind auch die meisten Firmen, die in den 1980er-Jahren die Technik ins Opernhaus eingebaut haben. Im Dimmerraum, wo die Regeltechnik für die Bühnenscheinwerfer steht, will Heggemann den Arbeitsaufwand zeigen, den eine veraltete Elektrik macht. Auf dem Weg dahin haben auch die Gänge durch den Opernhaus-Untergrund das Flair eines U-Bootes: prall gefüllte Kabelrinnen hängen von der Decke und machen sie niedrig. Im Dimmerraum treffen viele Reihen an Schaltschränken und Welten aufeinander.
Im Hintergrund blinken Geräte, die digitale in analoge Signale wandeln. Nur die werden hier verstanden; neue LED-Scheinwerfer sind aber digital. »Regisseure und Beleuchter wollen nicht mehr arbeiten wie in den 1980er-Jahren und verlangen nach neuen Technologien, die bessere Effekte ermöglichen und die heutigen Sehgewohnheiten des Publikums bedienen«, sagt Heggemann und erklärt: »Diese lassen sich aber mit dem Standard von 1983 nicht mehr steuern.«
Viel dazwischen gebastelte Technik ist folglich nötig, extra Lüfter auch. Dicke Platinen sitzen auf den Einschüben im Schaltschrank, den Heggemann öffnet. »So eine Platine stellt heute niemand mehr her«, sagt er. Geht etwas kaputt, ist nachkaufen unmöglich. Es gibt keine Ersatzteile mehr. Im laufenden Theaterbetrieb braucht es jedoch schnelle Lösungen. Wurden bis 2016 noch Kleinanzeigen durchforscht, sind die Techniker heute auf Lötkolben und Selbsthilfe angewiesen. »Wir zögern den Wechsel auf neue Standards möglichst lange hinaus«, sagt ihr Chef und fügt an: »Alles, was ausgebaut wird, bleibt da, damit wir im Notfall Ersatzteile haben.«
»Die Tänzer wünschen sich eine Rückzugs-möglichkeit. Wir haben dafür nur die Kantine«
Vincent Travnicek, Gruppentänzer und Kompaniesprecher des Stuttgarter Balletts, kennt den Zustand des Opernhauses bestens. »Am dringlichsten wünschen sich die Tänzer eine Rückzugsmöglichkeit. Wir haben dafür keinen Raum außer der Kantine«, nennt er das am häufigsten an ihn herangetragene Anliegen und öffnet die Tür zu einer der Herren-Garderoben. Eng stehen hier Schminktische nebeneinander, 16 Tänzer teilen sich den Raum und ein Sofa. »Hier wird auch der Boden oft zum Sitzen benutzt«, sagt Vincent Travnicek.
Kleiner Raum für Physiotherapie
Durch einen engen Flur geht es zur Physio. Im Vorraum wurden ein Klavier und Requisiten abgestellt, als wollte jemand die Enge des Opernhauses in einem Stillleben illustrieren. Unterwegs sagt der Sprecher der Tänzer ernüchtert: »Bevor ein Ruheraum für die Kompanie kommt, gibt es für das Theater sinnvollere Möglichkeiten, den vorhandenen Platz zu nutzen.« Eine bessere Arbeitssituation für die beiden Physiotherapeuten der Kompanie zum Beispiel. Als sich ihre Tür öffnet, schlägt einem gestaute Menschenwärme entgegen. Außer zwei Massageliegen haben vier Trainingsgeräte im kleinen Raum Platz gefunden – und eine Tänzerin, die am Boden sitzend isst.
Der Weg in die Kantine ist weit. Das letzte Stück führt vorbei an Kisten, in denen Instrumente lagern, und an Orchester-Stimmzimmern. Elisa Wickert, die Geschäftsführerin des Staatsorchesters, öffnet die Tür der Tubisten. Zwei Musiker teilen sich 1,5 Stellen. Ihr winziges Reich, in dem Instrumente, Hüllen, Dämpfer und Konzertkleidung lagern, sollten sie wegen der Lautstärke einer Tuba besser nicht zum Einspielen teilen. »Die Räume sind zu klein, das ist ein Riesenproblem«, fasst Wickert zusammen. Darunter würden die rund 145 Musikerinnen und Musiker leiden. Proben in Kammermusikbesetzung, überhaupt das Üben, hätten viele nach Hause verlagert, wenn es die Wohnsituation zulasse, sagt Elisa Wickert und blickt skeptisch in die Zukunft.
Irgendwann werde der gute Ruf des Orchesters nicht mehr reichen, um die desolate Raumsituation auszugleichen, vermutet sie und warnt: »Dadurch kann langfristig Qualität verloren gehen.« (GEA)
DIE STUTTGARTER OPER
Gebäude: Das Stuttgarter Opernhaus wurde nach Plänen des Münchner Architekten Max Littmann von 1909 bis 1912 zusammen mit dem später im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schauspielhaus erbaut. In Parkett und drei Rängen finden 1.400 Zuschauer Platz. Bereits 1924 wurde die Doppeltheater-Anlage unter Denkmalschutz gestellt. Sanierung: Das Finanzministerium hat vor Kurzem einen dreiteiligen Plan zur Opernhaus-Sanierung vorgelegt. Demnach sollen Ballett und Oper im zweiten Quartal 2042 in den dann ertüchtigten Littmann-Bau zurückkehren. Sein Umbau soll 2033 beginnen. Teil der Pläne ist ein neues Kulissenlager am Hallschlag sowie der Bau einer Interimsspielstätte und eines Verwaltungsgebäudes, das anschließend in der Maker City des neuen Rosenstein-Quartiers aufgeht. (GEA)