SIGMARINGEN. Wer am Bahnhof in Sigmaringen ankommt, dem sticht zuerst das schmucke Stadtschloss der Hohenzollern ins Auge. Doch hier im idyllischen Donautal, keine drei Kilometer vom Wohnhaus Winfried Kretschmanns im Stadtteil Laiz entfernt, ist einer der Brennpunkte der Migrationsbewegung in Baden-Württemberg. Wer entlang der Bundesstraße zur Landeserstaufnahmestelle läuft, die bereits hinter dem Ortsausgangsschild in der Nähe der Hochschule liegt, der nimmt Männer mit orangen Schutzwesten und weißen Masken wahr, die Müll sammeln. 80 Cent in der Stunde bekommen Geflüchtete dafür, die LEA und die Wege von dort in die Stadt sauber zu halten. Die Nachfrage nach diesen Jobs sei größer als die Arbeitsangebote, sagt der Leiter der LEA, Hardy Losekamm. Von einer Arbeitspflicht für Flüchtlinge hält er deshalb nichts.
Jeden Tag stehen Menschen an der Pforte der ehemaligen Graf-Stauffenberg-Kaserne in Sigmaringen und bitten um Asyl. Viele haben keine Papiere, manche sprechen kein Deutsch. Hier werden sie zunächst registriert und bekommen einen Bewohnerausweis. Wenn sie das eingezäunte Gelände betreten oder verlassen wollen, müssen sie den Bewohnerausweis scannen. Die Security-Leute kontrollieren die Bewohner und beschlagnahmen sowohl Alkohol als auch Messer, denn in der LEA herrscht ein strenges Alkohol- und Messerverbot.
Im Sommer werden zwischen 40 und 60 Menschen täglich erwartet
Zurzeit kommen zwischen zehn und zwanzig Menschen am Tag in Sigmaringen an. Im Sommer, wenn das Mittelmeer besser zu befahren ist, werden zwischen 40 und 60 Menschen am Tag erwartet. Mit einer Verzögerung von einer Woche würde man hier die Krisen der Welt an einem verstärkten Andrang von Menschen spüren, sagt Losekamm. So drängten sich etwa kurz nach dem Erdbeben in der Türkei oder dem Ausbruch des Ukrainekriegs innerhalb einer Woche Menschen aus dieser Region an der Pforte. Wie sie hierher finden? Es gebe entsprechende Videos in den sozialen Medien, sagt Loskamm.
Das eingezäunte Kasernengelände ist wie ein eigenes Stadtviertel mit einem Krankengebäude, wo ein Hausarzt Sprechstunden abhält, einer Kantine und einer Kinderbetreuungseinrichtung. Zwischen den insgesamt 52 Backsteingebäuden stehen Bäume, es gibt einen Fußball- und einen Volleyballplatz. In einem Gemeinschaftsgebäude verfolgen die Bewohner die Fußball-Europameisterschaft, unterstützt werde vor allem die deutsche und die türkische Nationalmannschaft.
»Wenn viele Familien in der LEA sind, dann ist es hier deutlich ruhiger«
Die Regelbelegung der 28 Wohnhäuser ist 875 Personen, doch im August 2015 wurden hier 2.500 Menschen untergebracht und auch bei Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 stieg die Zahl der Geflüchteten auf über 2.100. Momentan leben 621 Menschen auf dem Gelände, einige Häuser sind unbelegt. 20 Prozent der Geflüchteten sind Frauen, auch 120 Kinder leben hier, aber keine unbegleiteten. »Wenn Familien da sind, dann ist es hier ruhiger«, sind sich LEA-Verwaltung und Polizei und Bürgermeister einig.
Die meisten kommen aus Syrien und er Türkei
60 Prozent der Menschen, die zurzeit in Sigmaringen um Asyl bitten, kommen aus Syrien und der Türkei, gefolgt von Georgien, Irak und Afghanistan. Es ist ein eigenes Wohnviertel für Geflüchtete, das auf dem Kasernengelände entstanden ist. Insgesamt 58 Backsteingebäude umfasst es. In der Mitte ist mit Bauzäunen das ehemalige Fachärztezentrum der Bundeswehr abgetrennt. Hier soll bald die LEA-Verwaltung einziehen. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat eines der Gebäude bezogen. Hier werden bereits erste Anhörungen zu den Asylverfahren durchgeführt. Da die meisten Migranten aber nur sechs Wochen in der LEA bleiben, reicht diese Zeit, um eine Entscheidung in einem Asylverfahren zu fällen. Die Einführung einer Bezahlkarte würde für die LEA nichts ändern, sagt Hardy Losekamm. »Hier gibt es ohnehin nur Sachleistungen und ein Taschengeld von 150 Euro im Monat«.
Sind zeitweise über 2.000 Migranten in der LEA nicht zu viel für die 13.000 Einwohnerstadt an der Donau mit dem schmucken Zollerschlösschen?
Bürgermeister Marcus Ehm (CDU) hält die Belegung mit 650 Migranten und etwa fünf Prozent der Stadtbevölkerung – wie es in den letzten acht Monaten war – für »noch sozial kompensierbar«. Höhere Belegungszahlen hätten zu einer »Beeinträchtigung des subjektiven Sicherheitsgefühls« bei der Bevölkerung gefühlt. »Das soziale Gleichgewicht wurde durch Ängste, sich beim Einkauf oder in den Abendstunden in der Stadt frei zu bewegen, sowie Kinder- und Jugendliche alleine in die Schule gehen zu lassen oder an der Donau spazieren zu gehen, hier auf eine harte Probe gestellt«, so der Bürgermeister. Auch die Kriminalität in der Stadt habe sich durch den Sondereffekt LEA »signifikant erhöht«, sagt der Bürgermeister.
Gestohlene Fahrräder
2017 reagierte die Polizei, in dem sie direkt auf dem Geländer der LEA eine eigene Polizeiwache mit einer spezialisierten Ermittlungsgruppe einrichtete. Im Eingangsbereich der LEA-Wache ist ein Gedenkort mit dem Bild des in Mannheim getöteten Polizisten. Dahinter im Gang stehen Fahrräder, die die Beamten beschlagnahmt haben, weil sie ihren Besitzern gestohlen wurden.
Hauptkommissar Matthias Zok, der bereits vier Auslandseinsätze im Kosovo und Afghanistan absolvierte und Polizisten in einigen der Herkunftsländer von Flüchtlingen ausbildete, leitet das Team der Wache. Die Ermittlungsgruppe kann aufgestockt werden – je nach Belegung der LEA und damit verbundenem Arbeitsaufwand.
»Es ist nur ein sehr kleiner Teil der Geflüchteten, der kriminell wird«
Die Ermittlungsgruppe bearbeitet ausschließlich die Kriminalität von Personen aus der LEA und der Anschlussunterbringung in Sigmaringen. »Es ist nur ein sehr kleiner Teil der Geflüchteten, der kriminell wird«, betont Zok. Umso wichtiger sei es, dass diese Straftaten schnell geahndet werden. Vor kurzem gelang der Ermittlungsgruppe ein schneller Erfolg, der beispielhaft für ihre Arbeit ist. Vier junge Männer aus Georgien und Maghrebstaaten knackten in der Nacht von Freitag auf Samstag mehrere Autos und wurden dabei von einer Überwachungskamera gefilmt. Bereits am Montag darauf konnten die Polizisten die vier Bewohner der LEA festnehmen.
Da sie um das Gelände zu verlassen mit ihren Bewohnerausweisen auschecken mussten, konnte schnell festgestellt werden, wer zu nächtlicher Stunde noch unterwegs war. »Diese Bande hat sich hier in der LEA gebildet«, ist Zok überzeugt.
Der Fall sei auch im Hinblick auf die Tätergruppe exemplarisch, sagt auch Polizeirat Daniel Reiser, der Leiter des Polizeireviers Sigmaringen. Georgien, Tunesien, Algerien, Marokko – diese Nationalitäten, die eigentlich vom Bundestag als »Sichere Herkunftsländer« eingestuft wurden, tauchen immer wieder in der Kriminalitätsstatistik der Ermittlungsgruppe auf. »Durch die Einstufung der Länder als sichere Herkunftsstaaten bleiben die Leute länger in der LEA, weil das BAMF die Verfahren gleich hier durchführt«, sagt Reiser.
»Das soziale Gleichgewicht wurde auf eine harte Probe gestellt«
Auch in diesem Jahr kam es zu einem Vorfall mit einem »messerähnlichen Gegenstand« – davon spricht die Polizei weil die Tatwaffe nicht gefunden wurde. »Als wir da reinkamen, war zunächst nicht klar, wer Täter und wer Opfer ist«, schildert Zok die Situation im Januar. Inzwischen wurde der Täter, ein 19-jähriger Tunesier, der erst wenige Tage in Deutschland war, zu einer Haftstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt.
»Klar ist, dass keiner von uns alleine in die LEA geht – aber das galt auch schon vor Mannheim«, sagt Zok. Einen Messerangriff auf Polizisten habe es in Sigmaringen noch nicht gegeben – in der LEA gebe es ja ohnehin ein Messerverbot. Für den Notfall liegt in der LEA-Wache spezielle Ausrüstung parat: Helme, Schilde, Arm- und Beinschutz und verstärkte Westen. Eingesetzt werden musste diese Ausrüstung bisher noch nicht. Ansonsten betont Reiser, liefen Einsätze in der LEA nicht anders ab, als andere Einsätze in Sigmaringen auch.
Straftaten werden schnell aufgeklärt
Mit der Bilanz der Ermittlungsgruppe, die in diesem Jahr bereits 21 Haftbefehle erwirkt und vollstreckt hat und auf dem besten Weg ist, den Wert vom Vorjahr zu erreichen, als 34 Haftbefehle vollstreckt wurden, ist Zok zufrieden. »Mit zehn Mann ist das eine gute Bilanz«. Reiser verweist darauf, dass die Ermittlungsgruppe eine Aufklärungsquote von 80 Prozent habe. Weil so viele Straftaten schnell aufgeklärt würden, habe sich das Sicherheitsgefühl der Bürger gebessert. Reiser hebt hervor, dass es in Sigmaringen keine signifikante Häufung von Messerstraftaten und Sexualstraftaten gebe.
Bürgermeister Markus Ehm und der Sigmaringer Gemeinderat würden die Flüchtlingseinrichtung dennoch am liebsten so bald wie möglich schließen oder in eine andere Stadt verlegen. 2022 forderte der Gemeinderat mit nur zwei Gegenstimmen das Land in einer Resolution auf, die LEA mittelfristig zu schließen. Allerdings besitzt die Stadt bei der Landeseinrichtung LEA keine rechtliche Zuständigkeit. LEA-Chef Losekamm rechnet nicht mit einer baldigen Schließung der Einrichtung.
Zollschule entsteht in der Nachbarschaft
Für Bürgermeister Ehm ist das ein Ärgernis, da er gerne den interkommunalen Gewerbe- und Industriepark erweitern würde, der bereits auf einem Teil des Kasernengeländes entstanden ist. Da die LEA aber rechtlich als Wohnbebauung gilt, besteht für die Industrie ein Abstandsgebot. In direkter Nachbarschaft der LEA wird eine Zollschule gebaut.
»Klar ist, dass kein Polizist alleine in die LEA hineingeht«
Demonstrationen gegen die LEA habe es in Sigmaringen noch nicht gegeben, sagt Ehm. Wegen persönliche Beleidigungen und Bedrohungen habe er in zwei Fällen Anzeige erstattet. Im einen Fall sei der Täter verurteilt worden, aber schuldunfähig, im anderen Fall seien die Ermittlungen noch im Gange. (GEA)