REUTLINGEN. Die Linke in Baden-Württemberg verzeichnet so viele Mitglieder wie nie zuvor. Erstmals hat der Landesverband die Marke von 10.000 überschritten – und ist damit nun die viertgrößte Partei im Südwesten. In den Landtagswahlkampf ziehen die Linken mit einem weiblichen Spitzentrio: Kim Sophie Bohnen, Amelie Vollmer und Mersedeh Ghazaei. Ghazaei spricht im GEA-Redaktionsgespräch über die Erhaltung der Arbeitsplätze im Land, was Die Linke zur Aufrüstung sagt und warum sie im Land für ihre Partei momentan keine Koalitionsmöglichkeiten sieht.
GEA:Frau Ghazaei, Sie sind Teil eines weiblichen Spitzentrios, die als Spitzenkandidatinnen Ihrer Partei Die Linke in den Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg ziehen. Ihr Name ist wahrscheinlich nur wenigen bekannt. Deshalb: Wer ist Mersedeh Ghazaei? Und vor allem: Für welche Art von Politik stehen Sie?
Mersedeh Ghazaei: Ich bin Tochter eingewanderter iranischer Arbeiter, 28 Jahre alt und ich möchte Politik anders machen. Diesen Ansatz teile ich mit meiner Partei und er hat mich auch zu der Linken gebracht. Wir möchten Politik nicht stellvertretend für Menschen machen, sondern Politik mit den Menschen zusammen gestalten. Politik darf nicht etwas Exklusives sein, in einer lebhaften Demokratie müssen alle mitsprechen können. Ich bin nicht nur Friedensaktivistin, sondern auch Menschenrechtsaktivistin. Ich setze mich aber vor allem auch für soziale Gerechtigkeit ein. Mir ist eine Politik wichtig, die Menschen trifft, die allen Menschen hilft und das Land nach vorne bringt. Besonders in einer Krise wie jetzt, wo wir sehen, dass die Mehrheit der Menschen, die dieses Land am Laufen halten, sich ein würdevolles Leben einfach nicht mehr leisten können.
Bei der kommenden Landtagswahl am 8. März 2026 könnte es laut der letzten Umfragen für Ihre Partei mit dem Einzug in den Landtag in Baden-Württemberg erstmals klappen. Mit welchen Themen wollen Sie die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg im Wahlkampf von Ihrer Partei überzeugen?
Ghazaei: Zum einen mit dem Thema Miete, denn Miete ist unserer Meinung nach die soziale Frage unserer Zeit. In Baden-Württemberg liegen 15 der 30 teuersten Städte Deutschlands. Auch ich selbst bin davon betroffen, ich wohne in Stuttgart in einem WG-Zimmer, das 800 Euro kostet. Wir als Die Linke sagen: Wohnen ist ein Grundrecht. Miete ist kein Luxusgut, keine Geldanlage für Investoren. Wir möchten daher eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft fördern, außerdem fordern wir 20.000 neue Sozialwohnungen im Jahr. Und wir setzten uns für einen bundesweiten Mietendeckel ein, damit sich Menschen Ende Dezember nicht die Frage stellen müssen, heize ich jetzt oder hole ich meinen Kindern Weihnachtsgeschenke. Ein weiteres wichtiges Thema ist natürlich Gesundheit. Ich als privilegierte Stuttgarterin habe an jeder Ecke die Möglichkeit, mich gesundheitlich versorgen zu lassen. Im ländlichen Raum ist dies anders, deshalb müssen wir hier weitere Klinikschließungen verhindern. Außerdem setzen wir uns für Gesundheitszentren ein. Ähnlich wie beim Thema Wohnen darf auch beim Thema Gesundheit nicht der Profit an erster Stelle stehen, sondern die Menschen. Und dann ist da natürlich noch das Thema Arbeit. Vor allem in der Automobilindustrie werden Stellen gerade massiv abgebaut. Wir als Linke stehen hier an der Seite der Beschäftigten. Wir sind der Meinung, dass die Betriebsräte und Gewerkschaften in der Mitgestaltung viel mehr Mitspracherecht haben sollten. Beim Thema Bildung wollen wir Bildungsungerechtigkeit bekämpfen, die ich aus meiner eigenen Biografie kenne. Wir sagen: Bildung darf nicht von der Herkunft oder vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
»Mehrheit der Menschen, die dieses Land am Laufen halten, können sich ein würdevolles Leben nicht mehr leisten «
Lassen Sie uns genauer auf das Thema Wirtschaft kommen. Zumindest Teilen unserer Wirtschaft geht es nicht gut. Immer mehr Firmen bauen Arbeitsplätze ab. Bis 2029 droht allein bei Bosch in Reutlingen etwa jeder zehnte Arbeitsplatz wegzufallen. Viele sind aber überzeugt: Den Menschen im Land kann es nur gut gehen, wenn es unserer Wirtschaft gut geht. Sehen Sie das genauso?
Ghazaei: Menschen geht es gut, wenn sie einen sicheren Arbeitsplatz haben, wenn es genug Wohnraum gibt, wenn Bildung und Sicherheit gewährleistet ist. Wenn Arbeitsplätze abgebaut werden, sich der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg verschlechtert, dann ist das natürlich ein Problem. Wir sehen aber auch: Es wirkt sich meist direkt auf die Menschen aus, nicht aber auf die Chefetagen, nicht auf die Vorstände. Wir sagen deshalb: Arbeitsplätze müssen erhalten werden.
Und wie wollen Sie das erreichen?
Ghazaei: Im Bereich Automobilindustrie muss die E-Mobilität weiter gefördert werden. Der ÖPNV muss ausgebaut werden, wir brauchen eine gute Infrastruktur, eine gute Schieneninfrastruktur. Und hier würde ich tatsächlich auch Winfried Kretschmann widersprechen und sagen, wir müssen nicht in die Rüstungsindustrie investieren, sondern statt Bomben müssen wir Busse und Bahnen bauen. Wir müssen die Menschen von A nach B bringen. Arbeitsplätze erhalten. All das bedeutet Stärkung der Wirtschaft.
»Baden-Württemberg steuert mit dem aktuellen bildungspolitischen Kurs nicht auf Bildungsgerechtigkeit zu«
Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Bildungspolitik. Wo sehen Sie im Land in Sachen Bildung die größten Baustellen, was möchten Sie verändern?
Ghazaei: Das größte Problem ist, dass Schülerinnen und Schüler nicht die gleichen Bedingungen haben. Deswegen ist etwa ein kostenloses Mittagessen ganz, ganz wichtig. Wichtig ist auch, dass der Ganztag gefördert wird. Von der Kita bis hin zur Hochschulbildung muss Bildung kostenlos sein. Das ist eine Investition, die wichtig ist und die sich lohnt, denn es ist eine Investition in unsere Zukunft. In der Bildungspolitik geht es aber nicht nur um die Schüler oder die Kinder, sondern es geht auch um die Menschen, die hier arbeiten. Wenn also auf der einen Seite gefordert wird, es muss kostenlosen Ganztag geben, dann muss auch gewährleistet werden, dass diese Arbeitsplätze attraktiv sind. Wir hatten jetzt den Fall, dass 1.400 Stellen an den Schulen irrtümlich nicht besetzt wurden. Das sind Dinge, die nicht passieren dürfen. Wenn Bildung für uns keine Priorität hat und solche Sachen durchrutschen, dann ist das ein großes Problem.
Tatsächlich hat die grün-schwarze Landesregierung im letzten Jahr einige Dinge in Sachen Bildung auf den Weg gebracht, auch mit dem Ziel, Bildungsungerechtigkeiten abzubauen. So wird etwa die frühkindliche Bildung deutlich stärker gefördert als zuvor.
Ghazaei: Natürlich kann man sich prinzipiell immer darüber freuen, dass Einzelmaßnahmen ergriffen werden, das bestreitet niemand. Allerdings bringen kleine Förderungspflaster auch nicht viel, wenn das System an sich fehlerhaft ist, es ändert nichts an den Problemen: Baden-Württemberg steuert mit dem aktuellen bildungspolitischen Kurs nicht auf Bildungsgerechtigkeit zu. Schulen und Universitäten werden kaputtgespart, die Standards zwischen einzelnen Schulen im selben Stadtteil weisen extreme Ungleichheit auf und vor allem, unser Schulsystem - Förderung hin oder her - bleibt selektiv, ungerecht und gleiche Startchancen sind weiterhin ein Fremdwort. Außerdem fehlen an allen Ecken und Enden Fachkräfte für Kitas, so kann nur Betreuung stattfinden, Öffnungszeiten werden gekürzt und die frühkindliche Bildung bleibt auf der Strecke. Für Bildungsgerechtigkeit braucht es endlich eine landesweite Ausbildungsoffensive für mehr Personal, mehr Geld vom Land für die Kommunen, und die Kosten für frühkindliche Bildung müssen vom Land dauerhaft finanziert werden.
»Junge Menschen spielen eine essenzielle Rolle in unserer Partei, wir versuchen sie für Politik zu begeistern«
Bei der letzten Bundestagswahl, hat Ihre Partei auch vor allem von Seiten der jungen Wähler viele Stimmen bekommen. Wie erklären Sie sich das?
Ghazaei: Wir sind vor der Wahl mit vielen jungen Menschen ins Gespräch gegangen. Junge Menschen spielen aber auch eine essenzielle Rolle in unserer Partei. Wir versuchen, junge Menschen für Politik zu begeistern, Wahlbeteiligung zu steigern, ihnen zu zeigen: Politik ist für alle, Politik richtet sich auch an dich. Wir schauen, welche Themen junge Menschen bewegen, sprechen junge Menschen über Bildungsangebote, aber auch über Social Media direkt an. Wichtig ist, wir hören den Leuten zu und deshalb fühlen sie sich von uns auch angesprochen.
Dann haben Sie bestimmt auch gehört, dass viele jungen Menschen Angst um ihre Zukunft haben. Das hat einerseits mit der wirtschaftlichen Situation zu tun, aber auch mit den Kriegen in der Welt und der Bedrohung durch Russland. Hat Die Linke, hat Ihre Partei hier Lösungen?
Ghazaei: Ich glaube, das Wichtige ist auch hier, den jungen Menschen zuzuhören. Über 70 Prozent der Betroffenen lehnen eine Musterung und eine Wiedereinführung des Wehrdienstes ab. Wenn man nur von Aufrüstung und Krieg als einziger Lösung redet und dabei diplomatische Ansätze aus den Augen verliert, ist das der falsche Weg. Wenn unser Bundeskanzler beispielsweise sagt, völkerrechtswidrige Kriegshandlungen seien Drecksarbeit, dann ist das schon so eine kriegslogische Sprache, die die Jugend abschreckt, die der Jugend Angst macht.
Kommen wir zurück zu Baden-Württemberg. Was müsste sich Ihrer Meinung nach unbedingt ändern, damit unser Land fit für die Zukunft gemacht werden kann?
Ghazaei: Baden-Württemberg muss ein bezahlbarer, lebenswürdiger Standort sein, in dem alle ein würdevolles Leben führen können, und das nicht vom Geldbeutel abhängig ist. Die Menschen müssen an erster Stelle stehen, nicht der Profit.
»Uns trennt inhaltlich sehr vieles von den anderen Parteien, wir verstehen uns als klare Oppositionspartei.«
Könnte sich Die Linke in Baden-Württemberg eine Regierungsbeteiligung vorstellen? Oder sind Sie inhaltlich doch zu weit weg von den etablierten Parteien?
Ghazaei: Schon im letzten Bundestagswahlkampf war unser Standpunkt: Wir richten unsere Politik nicht danach aus, zu regieren, sondern zu verändern. Aktuell ist es tatsächlich so, dass uns inhaltlich sehr vieles von den anderen Parteien trennt. Wir verstehen uns als klare Oppositionspartei. Auch aus einer Opposition heraus kann man sehr viel bewirken. Selbst außerparlamentarisch. Für mich als Idealistin und Menschenrechtsaktivistin wird aus dem Parlament heraus nicht die Welt gerettet, sondern aus einem Zusammenspiel von allem. Wir haben die parlamentarische Arbeit, die außerparlamentarische Arbeit, Gewerkschaften. Wir haben eine Wahl- und Demokratiebeteiligung, die ansteigen muss. Gewerkschaften, Initiativen, Zivilgesellschaften. Wenn wir uns immer weiter zuspitzen und wirklich nur von oben nach unten arbeiten, dann wird die tatsächliche Demokratie immer geringer. Wir als Linke haben den Ansatz, Politik anders zu machen. Die Parteien im Landtag sind sich größtenteils einig, dass wir von der Automobilindustrie auf eine Rüstungsindustrie umschwenken sollen. Wir aber wollen nicht auf Krieg und Rüstung setzen. Daher sehen wir aktuell keine Koalitionsmöglichkeiten.
Zur Person
Mersedeh Ghazaei (28) wurde in Esslingen geboren und ist in Stuttgart aufgewachsen. Die Tochter iranischer Einwanderer ist seit 2023 in der Partei Die Linke aktiv. Nach dem Abitur unterrichtete sie Deutsch als Fremdsprache für Geflüchtete. Aktuell absolviert sie an der Uni Stuttgart einen Master in Englisch und American Studies. Sie ist außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihren Parteikollegen und Bundestagsabgeordneteten Luigi Pantisano. (kali)

