Logo
Aktuell Politik

Wie der Wahlkreis Rottweil zur AfD-Hochburg im Westen wurde

27,5 Prozent Erststimmen für den AfD-Kandidaten: In keinem anderen Wahlkreis in Westdeutschland konnten die Blauen so punkten, wie im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen. Wie ist es dazu gekommen? Eine Spurensuche.

Weithin sichtbar: Der Thyssenkrupp-Testturm bei Rottweil.
Weithin sichtbar: Der Thyssenkrupp-Testturm bei Rottweil. Foto: Jürgen Meyer
Weithin sichtbar: Der Thyssenkrupp-Testturm bei Rottweil.
Foto: Jürgen Meyer

ROTTWEIL. Die älteste Stadt Baden-Württembergs, die Stadt mit dem Thyssenkrupp-Testturm, die ultimative Fasnetshochburg: Rottweil schafft es nicht oft in die landes- oder bundesweiten Schlagzeilen. Und wenn, dann eher mit unverfänglichen Geschichten. Ein beschauliches Städtchen, rund 80 Kilometer südlich von Stuttgart, eingebettet in eine eher ländliche Region, traditionelles CDU-Gebiet. »Wir sind tiefschwarz«, sagen die Leute über ihre Region - stammt ja schließlich Alt-CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel von hier.

Seit der Bundestagswahl ist diese politische Einordnung nun aber ein wenig auf den Kopf gestellt. Denn seitdem ist klar: Der Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen ist auch eine AfD-Hochburg. »AfD holt in Rottweil bestes Erststimmenergebnis im Westen« titelt die Deutsche Presse-Agentur am Tag nach der Wahl. Kandidat Joachim Bloch, bis 2019 SPD-Mitglied, vereint im Wahlkreis 27,5 Prozent der Erststimmen auf sich. Damit hat er sein Ergebnis von der Wahl 2021 verdoppelt, fast jeder Dritte im Wahlkreis hat ihn gewählt. Das Direktmandat geht zwar weiter an CDU-Frau Dr. Maria-Lisa Weiss. Doch Bloch zieht über die Landesliste in den neuen Bundestag ein. Und beschert seiner Heimat kurz bundesweite Aufmerksamkeit.

Drei CDU-Mitglieder ganz in Fasnetsstimmung: Rottweils Oberbürgermeister Christian Ruf (Mitte), die neue und alte Bundestagsabge
Drei CDU-Mitglieder ganz in Fasnetsstimmung: Rottweils Oberbürgermeister Christian Ruf (Mitte), die neue und alte Bundestagsabgeordnete Marie-Lena Weiss und der Landtagsabgeordnete Stefan Teufel (rechts) beim Narrensprung am Fasnetsmontag. Foto: Silas Stein/dpa/dpa
Drei CDU-Mitglieder ganz in Fasnetsstimmung: Rottweils Oberbürgermeister Christian Ruf (Mitte), die neue und alte Bundestagsabgeordnete Marie-Lena Weiss und der Landtagsabgeordnete Stefan Teufel (rechts) beim Narrensprung am Fasnetsmontag.
Foto: Silas Stein/dpa/dpa

In den Tagen nach der Wahl ist wenig Zeit für politische Katerstimmung in der Region. Die Fasnet steuert auf ihren Höhepunkt zu, vor allem Rottweil steht Kopf. Doch auch die Fasnet ist in ihrer ureigenen Form ja politisch. Und so bringen Narren und Fasnetsgruppen an diesen Tagen immer wieder Themen zur Sprache, die für Blochs Überflug sicher mitentscheidend gewesen sein dürften.

So wird oft das Laden- und Gastrosterben aufs Korn genommen. Rottweil, einst eine lebendige Kleinstadt, ist außerhalb der Fasnet ruhig geworden. In den Dörfern drumherum sieht's noch ruhiger aus. »Die Stadt ist tot. Wenn man die Fußgängerzone hoch läuft, ist da nichts mehr«, sagt Günther Uttenweiler. Er ist 57 Jahre alt, hat AfD gewählt. Er habe zwar keine Angst um seinen Job, sagt er - aber vor einer langfristigen negativen Veränderung seiner Umgebung. »Ich will in einer Stadt und einer Region leben, der es wirtschaftlich gut geht.« Nur der AfD traut er zu, den wirtschaftlichen Niedergang von Baden-Württemberg aufzuhalten.

»Ich will in einer Stadt und einer Region leben, der es wirtschaftlich gut geht«

Wenn die Menschen in Rottweil und Umgebung über die Wahl sprechen, ist oft von den Grünen die Rede. »Irgendwelche Herren von Grün wollen die Welt retten«, sagt beispielsweise Günther Uttenweiler. Kernkraftwerke würden abgeschaltet, Atomstrom werde aus Frankreich gekauft. Wer soll denn das noch verstehen? In der Region leben sehr viele Arbeiter, ihre Mentalität ist pragmatisch und anpackend. Doch mit Gendern, Gleichstellungsgesetz und anderen Errungenschaften der Ampel können sie nicht viel anfangen. Es spielt schlichtweg keine Rolle in ihrem Alltag - also wird's in diesen närrischen Tagen bei den Fasnetsveranstaltungen aufs Korn genommen.

Mahle, Heckler & Koch, Junghans, Kern Liebers, Aesculap, Marquardt: Die Region ist überdurchschnittlich stark von Wirtschaft geprägt, es gibt große und bekannte Firmen, viel Mittelstand, Zulieferer, Medizintechnik. Nicht wenige Menschen haben ihr ganzes Leben lang bei einer Firma gearbeitet. Die Wirtschaftskrise löst nun schlichtweg Existenzangst bei ihnen aus. »Die Menschen sind täglich mit Nachrichten konfrontiert, dass ein Unternehmen in Kurzarbeit geht oder insolvent, oder die Produktion verlagert«, sagt die wiedergewählte CDU-Abgeordnete Weiss. »Sie haben Angst vor sozialem Abstieg.« Und trauen den etablierten Parteien die Lösung dieses Problems nicht mehr zu.

Mahle-Chef Arnd Franz bei einer Pressekonferenz. Auch sein Konzern hat Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. Mahle ist einer der
Mahle-Chef Arnd Franz bei einer Pressekonferenz. Auch sein Konzern hat Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. Mahle ist einer der großen Arbeitgeber in der Region Rottweil. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/dpa
Mahle-Chef Arnd Franz bei einer Pressekonferenz. Auch sein Konzern hat Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. Mahle ist einer der großen Arbeitgeber in der Region Rottweil.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa/dpa

Dem Wirtschaftsverband Heuberg scheint das schon vor der Wahl klar gewesen zu sein. Und so verschickte der Vorstand des Verbands im Januar 2025 einen Appell an die Mitglieder. »Jede Proteststimme für extreme politische Positionen – ob links oder rechts – verringert die Wahrscheinlichkeit, eine klare Mehrheit für eine wirtschaftsfreundliche und stabile Regierung zu erreichen«, heißt es darin. Die Unternehmer seien Multiplikatoren und sollten doch ihre Rolle nutzen, um dafür Sensibilität bei den Mitarbeitern zu schaffen. Die etwas verklausulierte Botschaft für: Bitte wählt keine AfD.

Wie gebeutelt die Wirtschaft in der Region ist, zeigt auch ein nüchterner Blick in die Statistik des Jobcenters: Im Landkreis Rottweil ist die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2024 um 14,2 Prozent gestiegen, im Landkreis Tuttlingen um 11,1 Prozent. Zum Vergleich: Im Bereich Reutlingen/Tübingen gab's im selben Zeitraum einen Anstieg um 9,2 Prozent. Noch deutlicher wird die Wirtschaftskrise beim Blick auf die Zahl der von Kurzarbeit betroffenen Menschen: Im Landkreis Rottweil ist sie 2024 um 106 Prozent gestiegen, im Landkreis Tuttlingen sogar um 163 Prozent.

»Jede Proteststimme für extreme politische Positionen verringert die Wahrscheinlichkeit, eine klare Mehrheit für eine wirtschaftsfreundliche Regierung zu erreichen«

Am Tag der Wahl wurde in Sulz am Neckar, ebenfalls Teil des Wahlkreises, per Bürgerentscheid darüber entschieden, ob Windkraftanlagen auf städtischen Flächen entstehen sollen. Der Plan der Stadt wurde mit einer deutlichen Mehrheit durchkreuzt, 61,2 Prozent der Bürger waren dagegen. In Sulz holte AfD-Mann Bloch 30 Prozent der Erststimmen, in kleinen Teilorten sogar bis zu 40 Prozent.

Ähnliches Bild in der Nachbarstadt Oberndorf: 30 Prozent für den AfD-Mann - und ein Erklärungsversuch von Bürgermeister Matthias Winter. »Hier beginnt gerade die Diskussion um einen (weiteren) Windpark auf unserer Markung. Dies ist, wie fast überall anders auch, immer mit gewissen Emotionen verbunden. Die Gegner stellen die Energiewende insgesamt infrage. Möglicherweise war das mit ein Grund für das Wahlergebnis.« Hat die Ablehnung gegen die Windkraft-Pläne die Menschen zur AfD getrieben? Das vermutet auch der Reutlinger AfD-Kandidat Rudolf Grams in der Analyse zum Erfolg der Blauen in Münsingen.

»Seit 2015 hat eine Entfremdung der Spätaussiedler von den etablierten Parteien stattgefunden«

Noch eine Korrelation lässt sich beim Blick auf die Wahlergebnissen feststellen: Wo viele Spätaussiedler leben, hat die AfD überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Auf dem Hegneberg, einem stark russlanddeutsch geprägten Rottweiler Stadtviertel, hat AfD-Mann Bloch gar satte 56 Prozent der Erststimmen bekommen. Mehr als jeder Zweite hat ihn gewählt. »Seit 2015 hat eine Entfremdung der Spätaussiedler von den etablierten Parteien stattgefunden«, sagt CDU-Frau Weiss. »Sie sehen besonders die Migrationspolitik kritisch.« Oft habe sie während des Wahlkampfs von Russlanddeutschen gehört: »Wir haben unser ganzes Leben gearbeitet. Jetzt kommen Flüchtlinge, arbeiten nicht und kriegen trotzdem Geld.« Weiss sagt, dass die AfD sehr intensiv um diese Gruppe geworben hat, es habe eine hohe Mobilisierung zur Wahl gegeben, berichtet sie.

Nachkommen von Spätaussiedlern in Rottweil berichten dem GEA, dass ihre Eltern und Großeltern sehr häufig russische Medien konsumieren. Dort werde widerum sehr positiv über die AfD berichtet. Man sei in der russlanddeutschen Gemeinschaft stolz auf ein Leben voller Arbeit und darauf, dass man es in Deutschland geschafft habe, sagen sie weiter. Außerdem sei man - wohl durch die Herkunft geprägt - anfälliger für totalitärere Parteien und Ansichten, auch für vermeintlich einfache Problemlösungen.

Björn Höcke 2023 bei der AfD-Veranstaltung »Der Nationalstaat zwischen Föderalismus und Europäischer Union« in der Rottweiler St
Björn Höcke 2023 bei der AfD-Veranstaltung »Der Nationalstaat zwischen Föderalismus und Europäischer Union« in der Rottweiler Stadthalle. Foto: Silas Stein/dpa/dpa
Björn Höcke 2023 bei der AfD-Veranstaltung »Der Nationalstaat zwischen Föderalismus und Europäischer Union« in der Rottweiler Stadthalle.
Foto: Silas Stein/dpa/dpa

Die Spurensuche zeigt: Die Menschen im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen beschäftigen dieselben Probleme, wie die Wähler anderswo. Doch es ballen sich in dieser Region gleich mehrere Faktoren, die Menschen zur Wahl der AfD bewegen. Das vorhandene Potential scheint auch die AfD selbst erkannt zu haben. 2023 fand in der Rottweiler Stadthalle eine AfD-Veranstaltung mit Björn Höcke statt. Im Februar 2024 wurde in eben dieser Stadthalle der turbulente Landesparteitag abgehalten, gefolgt von einer Veranstaltung mit Alice Weidel im April und einer Wahlkampfveranstaltung im Dezember. Die Stadthalle sei »mit rund 1.000 Plätzen und einer guten Verkehrsanbindung eine der ganz wenigen Hallen dieser Größe in der Region«, sagt Rottweils Bürgermeister Dr. Christian Ruf dem GEA. Außerdem habe der AfD-Landesvorsitzende Emil Sänze hier seinen Wahlkreis. (GEA)