Er war strafrechtlich ein völlig unbeschriebenes Blatt. Doch dann schickte er einen Erpresserbrief an die Drogeriemarktkette dm, bastelte zu Hause eine kleine Bombe und ließ den Sprengsatz in einer dm-Filiale hochgehen: Das Karlsruher Landgericht hat am Freitag einen 53-Jährigen zu sieben Jahren Haft verurteilt - wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung, Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und Sachbeschädigung. Außerdem muss der zuletzt in der Schweiz wohnhafte Deutsche rund eine halbe Million Euro an das Unternehmen zahlen.
Der Mann hatte von der Drogeriemarktkette im September 2019 diesen Betrag in der Kryptowährung Bitcoin erpresst. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zündete er mit Hilfe eines Weckers als Zeitzünder außerhalb der Geschäftszeit in einer Freiburger dm-Filiale beim Bereich Katzenfutter einen Sprengsatz. Verletzt wurde niemand. Die Detonation richtete aber dem Gericht zufolge eine »ordentliche Verwüstung an«: Regale flogen um und gingen kaputt, Waren lagen auf dem Boden. Den Schaden bezifferte das Gericht auf rund 30 000 Euro.
Das Motiv: Er habe nach wiederholtem Burnout nach vielen Nachtdiensten nicht mehr als Pfleger arbeiten können und sich bis zur Rente ein Auskommen sichern wollen. »Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte«, hatte der in Augsburg und Konstanz aufgewachsene Angeklagte zum Prozessauftakt die Tat erklärt. Der Waffensammler besann sich auf sein Know-how mit Bitcoins und Feuerwerkskörpern. Die Zutaten für den Sprengstoff habe er in der Schweiz ohne Schwierigkeiten organisieren können.
Kernfrage im Prozess war: Wie weit wäre der Mann gegangen, hätte das Unternehmen nicht bezahlt? Er selbst beteuerte: »Ich wollte keinen Menschen schädigen.« Er habe nur möglichst viel »Unordnung« in dem Laden schaffen wollen, damit seine Forderung ernst genommen würde.
Nach der Explosion hatte er aber in einem Bekennerschreiben gedroht, dass man »mit diesem Warnschuss mehr als glimpflich davongekommen« sei. Damit habe er suggeriert, dass er nicht davor zurückschrecke, Menschen zu verletzen oder zu töten, so das Gericht. Nur deshalb habe das Unternehmen bezahlt - aus Sorge um Kunden und Mitarbeiter.
In der Urteilsbegründung bescheinigte der Vorsitzende Richter dem Angeklagten »hohe kriminelle Energie«. Dass das Gericht dennoch unter der Forderung der Staatsanwaltschaft blieb (neun Jahre), lag zum einen daran, dass kein Mensch verletzt wurde, der Angeklagte voll die Tat einräumte und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der gesamte Schaden beglichen werden kann, so der Richter. »Er hat auf alles verzichtet, was ihm möglicherweise bleiben könnte.«
Über 350 000 Euro sind schon von Bitcoin-Konten eingezogen worden. Außerdem können diverse Fahrzeuge und eine Yacht zu Geld gemacht werden. Denn der Angeklagte war vergleichsweise sparsam: »Er hat das Geld nicht verprasst«, wie der Richter feststellte.
Mit dem erpressten Geld führte er ein unauffälliges Leben - und er erfüllte sich einen Traum: Er machte den Bootsführerschein und erwarb ein Motorboot, mit dem er bis nach Frankreich schipperte. Er wähnte sich längst sicher, als nach knapp drei Jahren die Handschellen klickten. Bis dahin war ihm gelungen, durch Mischen der Bitcoins mit anderen Kryptowährungen die Herkunft des Geldes zu verschleiern.
Dass er am Ende doch geschnappt wurde, ist der Beharrlichkeit, dem Know-how und akribischer Kleinarbeit der Ermittler zu verdanken. »Es ist ein großer Erfolg der Polizei und der Staatsanwaltschaft Karlsruhe«, so der Richter. Die Fahnder verfolgten mit Hilfe eines Experten für Kryptowährungen Transaktionsketten, sie werteten Flugrouten aus und setzten die Mosaiksteinchen Stück für Stück zusammen.
Dabei kam ihnen auch Kommissar Zufall zu Hilfe: Nach einer »XY«-Fernsehsendung, bei dem eine Überwachungskamera den Erpresser in bizarrer Aufmachung mit Brille und Perücke zeigte, meldete sich ein Zuschauer: Die Perücke kam ihm bekannt vor - die gebe es bei Amazon. Unter den 200 Personen, die in der fraglichen Zeit eine solche Perücke dort bestellten, war der Angeklagte.
Er wurde schließlich festgenommen. Seit Ende Juli vergangenen Jahres ist er in Untersuchungshaft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Angeklagte kann binnen einer Woche Revision beim Bundesgerichtshof einlegen. Die Staatsanwaltschaft könnte dies auch, will es aber nicht tun. Eine dm-Anwältin äußerte sich zufrieden: »Unser Anspruch wird voll gewährt.«
Im letzten Wort äußerte der Angeklagte einen Wunsch: Er würde gerne in der Haft eine Elektro-Ausbildung machen. Das sei es, was er könne und was ihn interessiere. In den Pflegeberuf, der ihn nach seiner Ansicht zur Tat getrieben hat, will er nicht mehr zurück.
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